ZELLEN. LIFE SCIENCE - URBAN FARMING – VOM 11. BIS 21. NOVEMBER 2010
11. bis 21. November

Zellen sind wieder in Mode. Nachdem das Humangenomprojekt zu d e r großen Enttäuschung der jüngeren Wissenschaftsgeschichte wurde, hat nun die Epigenetik für eine Wende gesorgt. Informationen werden demnach nicht einfach vererbt, sie müssen auch aktiviert werden, und zwar durch so genannte Schalter, die durch Ernährung und andere Einflüsse steuerbar zu sein scheinen. Damit wird nicht nur ein materielles Äquivalent zur Vorstellung von sozialen Einflüssen auf die Ausbildung des Individuums betont, sondern zugleich die Verantwortung für die jeweilige Entwicklung an die Einzelnen, die Eltern und insbesondere die werdende Mutter eines Kindes delegiert. Das sind Szenarien, die individualisieren, was gemeinschaftlich zu verantworten wäre. Es gibt aber auch erste Untersuchungen darüber, dass Viren bestimmte Gene übertragen können. Damit werden die überlieferten Vorstellungen von Vererbung erschüttert. Sind wir an das Ende eines bestimmten Modells von Leben geraten, von der Idee von Kontinuitäten der Entwicklung?
Zellen sind nicht nur kleine Kammern, sie werden auch als Fabrik vorgestellt, als Motoren des Wachstums und von Veränderung. Als Keimzelle ist die Zelle das Merkmal eines Anfangs im Kleinen, als Gefängniszelle überwachbarer Ort für Delinquenten. Vielleicht hat Arjun Appadurai Recht und vertebrale Systeme, wie sie die Nationalstaaten verkörpern, kämpfen augenblicklich wie die Dinosaurier um ihr Überleben, während zellulare Systeme wie das global organisierte Kapital, Terroristen, aber auch Graswurzelglobalisierung das Rennen machen. Vielleicht aber wohnen wir einem viel größeren Paradigmenwechsel bei, dessen Schemen wir nur ahnen können. Die Kontrolle über zellulare Entwicklung auf dem biologischen Sektor jedenfalls lässt sich nur mit kritischer Distanz beschreiben. Welche Auswirkungen diese Stufe der Biopolitik auf das individuelle Leben hat, ist nicht vorhersehbar. Immer jedoch geht es in diesen Bereichen um Geld und Macht, um Wachstum, Fortschritt und Kontrolle, wie zuletzt in der Debatte um die Thesen Sarrazins deutlich wurde. Einmal mehr zeigt sich, dass Theorien von Vererbung immer auch mit territorialen Interessen zusammenhängen. Eine Verbindung mit langer Tradition, die Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille für die zeitliche Konvergenz von Kolonialpolitik und Darwins Vererbungslehre aufgezeigt haben. Das sind bedrohliche Szenarien und allerorten tun Menschen doch aktuell und lokal etwas anderes, nutzen die Idee von Wachstum in ihrem Sinne und organisieren zum Beispiel in Detroit massenweise urbanes Gemüsegärtnern - Urban Farming - , um auf den Brachen der Stadt, die eine Fläche von der Größe San Franciscos ausmachen, etwas gegen den dort grassierenden Hunger zu unternehmen. Wir sind in Europa, und in Berlin gibt es ein solches Großprojekt noch nicht. Mit den „Prinzessinnengärten“ aber entstand auch hier ein Modell von gemeinschaftlich genutztem Stadtgarten, der ein nachbarschaftlicher Treffpunkt genauso ist wie ein Nutzgarten mit sozialem Charakter. Gemeinsam mit den Prinzessinnengärten verwandeln wir für zehn Tage unser großes Jugendstilhaus in einen Gemüsegarten, in dem gemeinsam gehegt und gepflegt, geerntet und gekocht werden kann. Wir eröffnen das Festival am 11. November mit einem großen Einzug und laden alle ein, mit uns zusammen den Garten zu bepflanzen. Christina von Braun wird mit ihrem Eröffnungsvortrag das Geld als Ursprungszelle verhandeln und die Korrelation zwischen Biologie und Ökonomie beleuchten. Anschließend gibt es Musik mit Masha Qrella, Kristof Schreuf und Angie Reed, dazu einen Teller Suppe. Später haben wir Gäste von „Life is Live“ im Garten, der dann mit Terre Thaemlitz queer bespielt werden kann.

Chris Kondek und Christiane Kühl bleiben am Thema des Geldes als wuchernder Organismus in „Money - it came from outer space“, einem Abend im HAU 3 (Premiere am 13. November). Die meisten Menschen halten Geld für ein Tauschmittel mit realem Gegenwert. Dieser Irrglaube hat uns in die aktuelle Katastrophe gestürzt. Geld ist kein neutrales Werkzeug, das wir benutzen; es ist ein gigantischer lebender Organismus auf dem Weg zur nächsten Stufe der Evolution. Jeder Euro, jeder Dollar, jeder Yen ist Teil einer Schwarmintelligenz, die sich in Kapitalströmen organisiert. Sie kennt nur ein Ziel: Vermehrung. Ausbreitung. Akkumulation. Panik bricht aus, Massenhysterie. Können die Regierungen das Kapital stoppen? Kann die Wissenschaft es zähmen? Was ist des Geldes wahre Natur?

Das Programm im Garten setzt sich fort mit einem Gespräch über das Gärtnern in unterschiedlichen Kontexten: Lothar Willmitzer, Richard Reynolds sowie Marco Clausen und Robert Shaw aus den Prinzessinnengärten sprechen über ihre Arbeit. Judith Revel beleuchtet aus der Perspektive der Philosophie kritisch die einfachen Metaphern des Körpers, die Biologie zum Ausgangspunkt des Denkens von Gemeinschaft nehmen und diese nicht wieder selbst als Konstruktion entlarven.

Am Wochenende (13./14. November) stehen die Prinzessinnengärten selbst im Zentrum. Zwischen Workshops zum Ernten, Saatgutgewinnen und Einkochen kann der Garten erforscht werden. Die Jugendclubs des HAU präsentieren über Monate erarbeitetes Material und die Helmis zeigen „Hans-Guck-in-die-Luft“, in dem der 19jährige Hans, Sohn einer herausragenden Seiltänzerin und eines berühmten Ornitologen, weltfremd und unbeholfen, aber ein begnadeter Zeichner und Vogelstimmenimitator, den Konflikt zwischen Künstlertum und Realität durchlebt. Showcase Beat le Mot spielen ein Konzert mit den Hits aus ihren Kinderstücken. Und am Abend kann gemeinsam diniert werden. Es gibt Gartenführungen und immer kann im Garten gearbeitet und geerntet werden. Es gibt Kaffee und Eintopf und der Garten steht nach Absprache jederzeit, generell aber täglich ab 16 Uhr, zur Nutzung offen.
Am Dienstag geht es um Architekturen und Zellen: Der bildende Künstler Moritz Majce verhandelt in seiner Performance „Within the Interim“ Architekturen von Gemeinschaft. Wir sprechen im Garten mit Peter Haimerl über zelluläre Automaten in der Architektur und Pieter de Buysser macht eine Lecture Performance zu Mauern und Grenzen, verhandelt darin das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in größerem Maßstab. Am Mittwoch gibt es einen Filmschnipselvortrag zu Gärtnern und Hartz IV von Wolfgang Müller und Hartmut Andryczuk; und b_books machen ihre montagspraxis am Donnerstag: ein Gespräch zum Thema „In Verteidigung der Gärten. Blumen, politische Gemeinschaften und romantische Fragmente einer Postgründerzeit“, in dem anhand von Projekten wie gap2go und Christoph Schäfers Buch „Die Stadt ist unsere Fabrik" über Nutzungsweisen der Stadt, Brachen, Blumen und Sofas, die auf der Straße bewohnt werden, diskutiert wird. Am selben Tag persifliert Rosa Casado gemeinsam mit Mike Brookes in ihrer interaktiven Performance „The perfect Human“ Vorstellungen von Übermenschen.
Im HAU 3 zeigen wir von Annie Dorsen die erste uns bekannte Computerperformance „Hello Hi There“ im Anschluss an den Disput zwischen Chomsky und Foucault über die Natur des Menschen, bzw. darüber, ob von so etwas überhaupt gesprochen werden kann.
Mit Vorträgen von Staffan Müller-Wille und Sheila Jasanoff, die aus aktueller und historischer Sicht Genetik, Gentechnologie und Empire reflektieren, beenden wir unser Programm im Garten. Im Anschluss an die Premiere „Dark Matter“ von Kate McIntosh nehmen wir beim Gartenfest Abschied vom Pflanzen im HAU 1. „Dark Matter“ wird von einer Frau im Scheinwerferlicht mit einem glitzernden Kleid und einem langen grauen Bart moderiert. Unterstützt von zwei Assistenten und einigen kleinen, sonderbaren Tänzen sowie wenigen Materialien, die man eventuell zu Hause hat – oder auch nicht –, ist die Performance eine Annäherung an die großen wissenschaftlich-philosophischen Fragen in frontalem Show-Biz Late-Night Theaterstil.

„Money – it came from outer space“ von Chris Kondek und Christiane Kühl und „Within the Interim“ von Moritz Majce werden gefördert durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten.

ZELLEN BLOG http://www.hebbel-am-ufer.de/zellen/

HAU_ZELLEN-Zeitung.pdf

„Zellen. Life Science – Urban Farming“ wird gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds