Gewalt als Selbst-Auslöschung


Ein Text von Romeo Castellucci (Heft 3)

Von nun an will ich meinem Theater eine masochistische Idee zurückgeben, so wie Sacher-Masoch ganz die Natur des Theaters gehört. Ich will jetzt nicht mehr über Theater sprechen, ohne den Edelmann zu vergessen. Aber zuvor noch: die Notwendigkeit besteht in jenem Gehorsam gegenüber der Tatsache, die Bühne zu betreten. Mehr kann ich dem nicht hinzufügen, wirklich nicht. Ich gehorche, ohne zu verstehen. Ich bin auf eine Bühne geraten. Ich lasse mich dort finden. Aber ich habe es nicht gewollt. Und ich will es auch nicht. Aber ich befinde mich dort. Und von eben dieser Tatsache von wahrhafter und außerordentlicher Seltsamkeit stammt die subtile Beziehung der Gewalt ab, die den elementaren Akt der Bühne regiert: die Tatsache, sie zu betreten. Es gibt also für mich ein Band, das im Schmelztiegel der Sühne bestimmt werden muß, dort, wo das Bewohnen des Theaters als Schuld erlebt wird, das Theater als häßlichster aller möglichen Orte. Genau hier liegt meine wahrste Möglichkeit. Und eben hier kann mein Problem der Schönheit seinen Ausgang nehmen. Mein mit Nimbus versehenes Sein.

Die einzig mögliche Existenz für den Schauspieler ist seine Freude, das heißt, seine Bestrafung; es muß jedoch gleich hinzugefügt werden, daß das Paradox nicht hier endet. Hier fehlt ein 'Paradox über den Schauspieler', weil ein nicht-narrativer Gedanke auf ihm lastet, der einen Anfang hat und vor allem, ein Ziel, das eigene Telos.

Mit Masoch muß man es heute - der Läuterung wegen - halten; mit Masoch, um der Seltsamkeit desjenigen, der darstellt, nahezukommen. Mit Masoch also, um die passive Macht des tauben und blinden Gehorsams zu erfassen. Er ist es, durch den ich lerne, Hund, Sklave, ausgestellter, aufgehängter Körper zu sein. Durch ihn lerne ich - da die Wege parallel verlaufen - Demütigung, Niederlage und Schande. Es ist Masoch, mit dem ich die Früchte des Schmerzes ernte. Der Schmerz als Theater und nicht umgekehrt. Der Schmerz als ungehörtes Befreiungsprojekt. Der Schmerz zum Lieben. Der Schmerz von Jesus Christus. Schmerz und Theater. Franz Rosenzweig schreibt:

"Der Künstler weiß sich als der, dem gegeben ist, zu sagen, was er leidet. Die Stummheit des ersten Menschen ist auch in ihm selbst. Er versucht weder, das Leiden zu 'verschweigen' noch es 'herauszuschreien': er stellt es dar. In der Darstellung verhöhnt er den Widerspruch, daß er selber da ist und doch auch das Leiden da ist; er versöhnt ihn, ohne ihm den geringsten Abbruch zu tun. Ihrem Inhalte nach ist alle Kunst 'tragisch', Darstellung des Leidens."

Das Leiden ist also die verächtlichste 'Behauptung' von Masoch, aber ich kann dieselbe Forrnel für den, der darstellt, wiederholen: die masochistische Arena und das Martyrium der Bühne klingen als Extreme dieser abgrundtiefen Verbindung wieder, in der ein Leiden gesucht wird. Das Spiel als Kunst des Vorführens von Masoch sind Akte der Leidenschaft, weil sie Akte der Zurschaustellung sind. Leidenschaft der Sprache, die ausgestellt, auf ihrem eigenen Äußeren aufgehängt wird; an der Oberfläche, die ihre eigene Wiederauferstehung ausdünstet; die Wiederauferstehung des ausgestellten, leidenden Körpers, der aus sich herausgeht, der sich den Blicken zeigt. Man muß sich also die Bühne als Flucht vorstellen, obwohl wir in ihrer unmenschlichen Unbeirrbarkeit zurückgehalten werden. Während sich der Schauspieler gibt, ist er - und leidet. Das sich Geben und das Sein sind die Gleise seiner Flucht und das Leiden ist der Nimbus. Flucht und Nimbus sind unsichtbar. Aber die Schuld? Und die Sühne? Welches so massiv zerstörerische Schuldgefühl kann ein so hohes Opfer an Sühne verlangen? Was macht die Anwesenheit auf der Bühne so unerträglich, daß sie gebieterisch ein Opfer verlangt? Die Schuld von Masoch und - um auf Übereinstimmung zu beharren - des Schauspielers, ist die Ähnlichkeit mit dem Vater, dem genetischen Vater und dem 'Gott-Autor', wie es Artaud ausdrückte. (Und es ist die Optik von Masoch, unter der ich Artaud als einen masochistischen Autor wiederlese.) Es ist das Bild des Vaters im Sohn, das der destruktiven Gewalt zum Opfer fällt. Die Gewalt schlägt sich im Sohn nieder, um später das Gesetz des Vaters zu treffen.
Im Kodex der antiken Rituale würde die symbolische Struktur dieses Zerstörens-um-zu-erhalten unter das fallen, was als 'antizipiertes Opfer' definiert wird. Das Gesetz wird mittels des Rituals umgangen, das die Rolle des Verbots und der Bestrafung mit der Übertretung vertauscht. Ich, Masochist, setze mich zuerst der Bestrafung seitens des Gesetzes aus, dann habe ich von Rechts wegen, aufgrund desselben Gesetzes, Zugang zum Vergnügen, das vorher verboten blieb. Nun, da ich schon gesühnt, bleibe ich der Erlangung des Wunschobjekts durch ein Gesetz verpflichtet, das, nunmehr verdreht, sich selbst von innen heraus verneint. Betroffen ist das Gesetz des Vaters. Der Wunsch, der durch die Abschaffung des Männlichen geht, besteht in einer Übergabe an die Mutter, einer Beziehung mit ihr, einer Wiedergeburt schließlich aus dem / des Weiblichen. "Nie mehr im Männlichen'. Ich habe es gesagt: das Männliche ist nichts. Es wahrt Kraft, doch es begräbt mich in der Kraft", schrieb Artaud 1936. Jetzt bleibt nur noch die Frau, die Masochs Körper etwas anhaben kann, ihr fällt die Aufgabe zu, den Vater in der Ähnlichkeit des Sohnes zu strafen. Auf sie, die neue Demeter, fallen die Gesetze zurück. Masochs Besessenheit für Verträge, die kaltblütig die grausamen Beziehungen zwischen ihm und der Frau regelten, rühren von eben dieser symbolischen Investition her, die man in die Mutter der Gesetze tätigt. Der Vertrag ist der rituelle Kern des gesamten Masochismus'.
Masoch identifiziert sich mit dem Sohn und fügt sich nahtlos ins schreckliche Zeichen der Frau, der Steppenmutter, die über Leben und Tod verfügt, von ihr, die genug Symbol ist. In diesem Sinne Masoch und Bachofen. Aber ganz mit Masoch hält es noch ein masochistischer Artaud, der schreibt: "Das aktive Männliche wird komprimiert werden. (...) Das Weibliche ist donnernd und schrecklich wie das Gebell eines sagenhaften Fleischerhundes, gedrungen wie ausgehöhlte Säulen, kompakt wie die Luft, die die gewaltigen Wölbungen des Unterirdischen zumauert." Eben vom Schmerz und vom Tod, die von dieser Mutter kommen, kann die Befreiung des freudvollen Körpers ausgehen, die Wiedergeburt einer 'ausgestellten' Beziehung auf der Bühne. Aber betrachten wir einen 'richtigen' Vertrag, den Sacher-Masoch mit einer Frau abschloß:


"MEIN SKLAVE!
Die Bedingungen, unter welchen ich Sie als
Sklave annehme und an meiner Seite dulde,
sind folgende:
Ganz bedingungsloses Aufgeben Ihres Selbst.
Sie haben keinen Willen außer mir.
Sie sind in meinen Händen ein blindes Werk-
zeug, das ohne Widerrede alle meine Befehle
vollzieht. Sollten Sie vergessen, daß Sie Sklave
sind und mir nicht in allen Dingen unbedingten
Gehorsam leisten, steht mir das Recht zu, Sie
ganz nach meinem Belieben zu strafen und zu
züchtigen, ohne daß Sie wagen dürfen, sich
darüber zu beklagen.
Alles, was ich Ihnen Angenehmes und Glück-
liches gewähre, ist Gnade von mir und muß
nur als solche dankend von Ihnen angenom-
men werden; ich habe keine Schuld, keine
Pflicht gegen Sie.
Sie dürfen weder Sohn, Bruder noch Freund
sein, nichts als mein im Staub liegender Sklave.
So wie Ihr Leib, gehört auch Ihre Seele mir
und mögen Sie noch so sehr darunter leiden,
so müssen sie doch Ihre Empfindungen, Ihre
Gefühle, meiner Herrschaft unterordnen.
Die größte Grausamkeit ist mir gestattet, und
wenn ich Sie verstümmle, so müssen Sie es
ohne Klage tragen. Sie müssen arbeiten für
mich wie ein Sklave, und wenn ich im Über-
flusse schwelge und Sie entbehren lasse und
Sie mit Füßen trete, müssen Sie ohne zu mur-
ren, den Fuß küssen, der Sie getreten.
Ich kann Sie jede Stunde entlassen, Sie aber
dürfen ohne meinen Willen nie von mir, und
wenn Sie mir entfliehen sollten, so gestehen
Sie mir die Macht und das Recht zu, Sie
durch alle erdenklichen Qualen bis zu Tode
zu martern.
Sie haben außer mir nichts, ich bin Ihnen
alles, Ihr Leben, Ihre Zukunft, Ihr Glück, Ihr
Unglück, Ihre Qual und Ihre Lust.
Was ich verlange, Gutes oder Schlechtes,
müssen Sie vollziehen, und wenn ich ein
Verbrechen von Ihnen fordere, müssen Sie
auch Verbrecher werden, um meinem Willen
zu gehorchen.
Ihre Ehre gehört mir wie Ihr Blut, Ihr Geist,
Ihre Arbeitskraft, ich bin Ihre Herrin über
Leben und Tod.
Wenn Sie je meine Herrschaft nicht mehr
ertragen könnten, daß Ihnen die Ketten zu
schwer werden, dann müssen Sie sich töten,
die Freiheit gebe ich Ihnen niemals wieder."

"Ich verpflichte mich mit meinem Ehrenworte, der Sklave der Frau Wanda von Dunajew zu sein, ganz so, wie sie es verlangt, und mich Allem, was sie über mich verhängt, ohne Widerstand zu unterwerfen.
Dr. Leopold Ritter von Sacher-Masoch."

Man lese nun diesen Vertrag unter dem Aspekt der Bühnenwirklichkeit und ihres Diktats für den Schauspieler wieder. Die Liebesbeziehung zwischen Masoch und der Frau ist - in den genauen Bestrafungstermini der herrschenden Theatersprache - dort, wo die horizontale Aufnahmeebene - die Bühne - von der Mutter dargestellt wird, die den eigenen Sklaven aufnimmt, drängt und bestraft und in ihm - weil es sein Entwurf ist - die Macht des männlichen Gesetzes wieder austreibt. Die Mutter 'ist', und sie verweilt auf dem Mann. Sie zerquetscht seine Hoden und preßt sie aus, indem sie darauf sitzt. Und mit dem Schlußbild dieses Vertrages will ich mein Theater 'einweihen'.

Über Risiko
Das Element 'Risiko' gibt es nicht, denn gerade das Element 'Schmerz' ist - unvermeidlicherweise - meine Schwelle, mein Coming out, mein reinstes Erscheinen. Ich habe keine Angst, daß es passiert ... Das Risiko besteht, wenn es überhaupt besteht, im Gegenteil: ich habe Angst, daß es nicht passiert, daß das Irreparable nicht von statten geht. "Die Kunst scheint wirklich aufs vollkommenste das Kreuz zu ersetzen." (F. Rosenzweig)

November 1992