Ein Interpret muß dienen


Ein Gespräch mit Edith Clever (Heft 1)

I.
Wenn man eine Zeit an einem Ort verbracht hat, wo man etwas mehr in der Natur gewesen ist, und kommt dann zurück in eine solche Stadt wie Berlin, ganz arglos, man freut sich auch, daß man wieder nach Hause kommt, irgendwann hat man ja auch genug von der Natur, dann sieht man unterwegs auf der Fahrt mit dem Auto die sterbenden Bäume, und von weitem steht dann die Luft schon über der Stadt, wie Schwefel. Da hat man schon Höllenvisionen, da muß ich nicht viel Phantasie haben, um die zu haben. Und dann fährt man hier rein, schaut die Menschen an, die irgendwie in den Ecken grau herumstehen, verloren, ohne jeden Zusammenhang, so erscheint es wenigstens, ganz und gar in dieser grauen Wüste mit diesem dreckigen schmutzigen Himmel über ihnen, das ist ein Bild der Hölle, eine Höllenvision. Wir leben bereits in der Hölle, nur wir merkens nicht immer. Und wenn man es schon damit zu tun hat, mit der Schauspielerei, muß ich doch darunter leiden, daß ich nicht über die Straße gehen kann von hier bis zum Theater, ohne totgeschlagen zu werden von allem, was mich umgibt. Daß ich keinen Raum mehr finde, wo wirklich Ruhe ist. Den gibt es nicht. Wenn ich mich vorher nicht konzentrieren kann, kann ich aber nicht auf die Bühne gehen. Es gibt aber keine Räume mehr, wo man sich konzentrieren kann. Die Ablieferungen der Belästigungen nehmen ja kein Ende. Und wenn ich dann ins Theater gehe und mir die Sachen da ansehe, dann schreit es einem ebenso entgegen, ein solcher Lärm und eine solche Hatz, was ich eh schon um mich habe, da werde ich noch einmal totgeschlagen. Das geht nicht. Man kann sich nicht rund um die Uhr totschlagen lassen. Da muß man sich zur Wehr setzen. Das meine ich schon. Ich denke, daß man eine Verpflichtung hat, dagegen noch Räume zu schaffen, wo man sich aufhalten kann, wo man atmen kann. Das hat doch auch immer mit Kunst zu tun gehabt. Ob ich jetzt vor einem griechischen Standbild stehe oder einem Rembrandt, ob ich da bei Strehler den 'Faust' sehe, oder Picasso und Beuys, das ist im Grunde genommen eine Sprache aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Menschen. Es ist in seinem Wesen immer dasselbe, was da gesagt wird: irgendwie wird man beschenkt, irgendwas wird gerettet in einem, man atmet auf, man staunt, und wie für einen Augenblick ist die Welt wieder im Lot, auch wenn es nur für eine Sekunde ist. Und dafür lohnt es sich doch, - sich ein Leben lang darum zu bemühen. Und nicht einfach diese Welt fortzusetzen, die doch im Materialismus vollkommen verhaftet ist.

II.
Entweder wir bleiben kleben in diesem Destruktiven und wir schaffen es nicht mehr, wir schaffen es wirklich nicht mehr, dann ist es so. Ich glaube ja auch nicht, daß das aus reiner Bosheit so ist, sondern weil wir den Dingen, die wir beschworen haben, nicht mehr gewachsen sind. Wir sind hier offenbar heillos ausgeliefert. Oder es gibt tatsächlich noch einen Wandel. Aber ich weiß natürlich nicht, wie man die Dinge, die nun einmal in der Welt sind, mit den ganzen Zerstörungen, jetzt noch verändern kann, wie man das noch halten und wieder fassen will. Was soll damit werden. Entweder wird es aus sein, oder es wandelt sich. Da kann man schon Angst kriegen, in einer Welt, die so an einem Endpunkt, an einem Wendepunkt, so auf des Messers Schneide steht, daß man sich schon fragen muß, um was geht es da noch, was kann ich da überhaupt noch formulieren. Ich bin ja kein Schriftsteller. Die erfinden eigene Welten. Ich erfinde ja keine eigenen Welten; das würde ich vielleicht ja auch gerne tun, aber es ist mir nicht gegeben. Ich bin nur ein Interpret. Ich kann von mir aus nur durch mich etwas hindurch sagen. Aber ich kann nicht selbst eine Welt formulieren, wie das eben Schriftsteller, Komponisten, Maler oder Bildbauer können.

III.
Jeder Mensch hat ja seine eigenen Fähigkeiten, und wie ich von Goethe gelernt habe, hat jeder Mensch eben andere. Und das Zusammenspiel dieser verschiedenen Varianten ergibt das Ganze. Und dann ist es bunt und schön und ist die Welt. Ich weiß, daß ich ein kleiner Ton in dem großen Ganzen bin. Aber diesen Ton, den möchte ich doch singen. Und möglichst nach meinen Möglichkeiten. Diese Verpflichtung habe ich, würde ich denken, den Möglichkeiten gegenüber, die mir gegeben worden sind; die habe ich mir ja nicht genommen, die sind mir ja gegeben, also muß ich versuchen, diesen Ton so gut und schön zu singen als es mir eben möglich ist, als Lebensaufgabe. Und wenn ich dann den Sviatoslav Richter höre, wie er eine Mozart-Sonate spielt, dann habe ich das Gefühl, ja, der kann das noch, er ist zwar schon alt, aber er versucht es bis zum letzten Moment. So schön und so wie er es kann und nur er es kann, dies zu spielen. Und da wird nicht viel gefragt und nicht viel diskutiert. Er spielt es. Und so sehe ich das auch. Dieses ganze Gerede ist überflüssig. Eigentlich muß man sich hinsetzen, den Ton spielen oder singen oder sprechen und alles andere ist drittrangig. Dem ist man verpflichtet. Ganz einfach. Jeder seinem eigenen Lied. Und wenn ich mich der Griechen bemächtige oder eben Kleists, dann muß ich doch zunächst einmal versuchen, soviel wie möglich von dem Ton zu hören, den dieser Mensch angeschlagen hat. Das will man ja wieder zum Klingen bringen und etwas aussagen über das Lebensgefühl dieser anderen Zeit. Da kann ich mich nicht einfach drüber hinwegsetzen. Dem versuche ich auf die Spur zu kommen. Dem forsche ich nach. Damit setze ich mich als Mensch von heute in Beziehung und schaffe Übergänge von der Vergangenheit zur Gegenwart. Man ist den alten Dingen, den Texten gegenüber in bestimmter Weise verpflichtet. Ich muß die Partitur wahrnehmen, wie der Pianist, dazu ist man ja Interpret. Aber es gibt natürlich Theaterleute, die nehmen einfach den Goethe und lesen ihn gar nicht mehr, sondern nehmen ihn zum Anlaß, eine Geschichte zu erzählen. Der Text wird noch benutzt, aber es wird eigentlich die Partitur nicht mehr gespielt. Sie ist nur noch ein Anlaß für Regisseure, die so tun, als ob sie eigene Welten schaffen würden. Aber das können sie nicht. Auch Regisseure sind Interpreten. Sie haben zu dienen. Ein Interpret muß dienen, und das will keiner mehr. Vielleicht hat man ja auch, das mag sogar als Impuls richtig sein, genug von diesem ganzen alten Zeug, so sagt Syberberg es manchmal, und die Leute nehmen das jetzt eben wie Mythen und gehen frei schaffend damit um. Aber wenn jemand wirklich etwas Neues erfinden will, dann könnte er es bitte auch erfinden. Also entweder ich schmeiß uns wirklich weg und sage: also gut, wir sind eben im Orkus, und dann schmeiß ich alles noch dazu, rühr das einmal um, oder ich versuche doch noch, einen Ton, einen Wert zu formulieren.

IV.
Ich bin ganz und gar mit dem, was Furtwängler in seinem Aufsatz über tonale und atonale Musik schreibt, einverstanden; und zwar aus eigener Erfahrung. Furtwängler hat immer versucht, auf die Natur zu verweisen, auf den Atem in der Musik, das Einatmen und das Ausatmen als Urereignis überhaupt der Natur, der Schöpfung. Er war den wirklichen Geheimnissen der Schöpfung in der Musik auf der Spur. Die Schöpfung beginnt mit der Ruhe. Und aus der Ruhe heraus entsteht die Explosion. So wie man keine Spannung aufbauen kann aus der Spannung. Das geht nicht. Nur aus der Ruhe, aus der Entspannung, kann man Spannung aufbauen. Das geht nun mal nicht anders. Das ist ein Naturgesetz. Furtwängler hat nur so denken können, nur so hat er Spannung erleben und aufbauen können, indem er die Naturgesetze erforscht und beachtet hat, um dadurch dem Komponisten der Musik näherzukommen. Und da ich immer noch glaube, daß wir Naturwesen sind, und es hier nichts Höheres gibt, können wir uns auch nur durch diese Natur, die wir ja sind, äußern. Dabei haben wir die Naturgesetze zu beachten. Und wenn man weit genug oder tief genug geht, kann man dann auf diese Schwelle, in jene Grenzbereiche gelangen, die ein Dichter wie Kleist eben beschreibt, den Menschen in seiner Existenz, der Mensch in seinem absoluten Aufsichgestelltsein in diesem Raum, in eine Situation gestellt, wo er dann Ja oder Nein sagen kann. In diesem Raum muß er sich entscheiden. Bei großen Stücken verdichtet sich dieses Thema so stark durch den Dichter, der eben noch imstande ist, zu verdichten, daß man als Schauspieler, wenn man noch irgendwie einen Sinn dafür hat, durch die eigene Existenz den Versuch unternimmt, sich damit zu verbinden, auch sich selbst noch verdichten kann und die eigene Existenz verbinden kann mit dem, was der Dichter sagt. Es geht am Ende doch um Grundbefindlichkeiten des Menschen, weshalb es dann auch verstanden wird. Das bleibt ein Geheimnis wahrscheinlich. Da schließt sich etwas zusammen, daß da plötzlich etwas verständlich wird: der Mensch. Daß da plötzlich eine Aussage kommt über die menschliche Existenz; was das überhaupt ist. Auf dem Theater kann man das hören und sehen oder eben nicht hören und sehen. Und hin und wieder ist es vielleicht so gewesen, daß ich solche Momente erfassen konnte oder tragen konnte. Aber das hängt natürlich immer mit dem Stoff zusammen. Das kann man gewiß nicht an allem und jedem festmachen. Das ist ganz ausgeschlossen.

(Das Gespräch führte Gerhard Ahrens in Berlin am 16. Februar 1992)