Jenseits der Gleichgültigkeit


I. Die Beinchen der Hummel

Die Theaterschrift als internationales Projekt

Die erste internationale Ausgabe der Theaterschrift liegt vor Ihnen. Eigentlich handelt es sich hierbei bereits um die dritte Nummer, aber die erste Schrift "Über Schauspielen" und die zweite "Der Text und seine Varianten" sind vorläufig nur in Niederländisch erschienen. Für die niederländischsprachigen Leser müßte die Zahl Eins auf dem Umschlag daher eigentlich eine Drei sein; wir hoffen, daß sie uns 'diesen kleinen Sprung zurück' vergeben werden: Von jetzt an zählen wir zusammen mit unseren europäischen Kollegen weiter.

Die Zielsetzung der Theaterschrift kann als "eine Vertiefung der dramaturgischen Arbeit, die die künstlerische Arbeit begleitet" beschrieben werden. Das heißt: Diese Publikation will die Arbeit der Künstler in und um die verschiedenen, an diesem Projekt beteiligten Theater in einen Kontext und eine Zeit stellen und sie so miteinander verbinden. Die Nummern behandeln stets ein Thema aus dem oder um den Bereich der künstlerischen Arbeit. Das Basismaterial der Schriften besteht demnach aus Interviews mit Künstlern, obwohl das, je nach Thema, auch variieren kann.

Während der Arbeit an den ersten Schriften ist das Bewußtsein gewachsen, daß das Gebiet ihrer Aktivitäten weiter reichen kann, als dem Publikum lediglich eine Auslegung anzubieten.

Probieren wir, ihren Wirkungsbereich näher zu umschreiben.

1. Die Konsolidierung der künstlerischen Arbeit

Wenn es einen gemeinsamen Nenner für jene Künstler gibt, die um die am Theaterschriftprojekt beteiligten Theater kreisen, dann, daß sie für größtmögliche künstlerische Freiheit plädieren und ihre Vereinnahmung durch den "1aufenden Betrieb” ablehnen. Die Entscheidung, sich nicht in Institutionen zurückzuziehen, heißt aber auch, daß andere Mittel und Wege gefunden werden müssen, um jene Beständigkeit zu erreichen, die für die Arbeit dieser Künstler notwendig ist und auf die sie ein Recht haben. Stück für Stück geht es hier um Künstler, deren Einstellung individuell geprägt ist: Was sie zu sagen haben, äußert sich in erster Linie in ihrer künstlerischen Arbeit und nicht in Manifesten oder Bewegungen, nicht in Schulen oder Instituten, vorläufig auch nicht in eigenhändigen theoretischen Schriften oder sonstigen Formen der Verbalisierung ihrer Praxis.

Auch wenn bereits eine Reihe der betreffenden Künstler internationale Aufmerksamkeit bei Publikum, Presse und Organisatoren geweckt haben, gibt es andere Aspekte ihrer Arbeit(sweise), die irgendwo "erhalten" werden müßten: eine Konsolidierung, die sowohl für die Entwicklung ihrer eigenen Arbeit, als auch für die Arbeit kommender Generationen und die Kunst im allgemeinen von Bedeutung ist.

- Die Theaterschrift kann bei dieser Art von Konsolidierung eine Rolle spielen, sei es auch lediglich der bescheidene Anspruch, "genau aufzuzeichnen, was diese Künstler über ihre Arbeit und über die Welt zu sagen haben".

- Wenige dieser Künstler sind bisher wirklich daran interessiert gewesen, Unterricht zu geben, oder "Schule zu machen": Dank des Dialoges, den die Theaterschrift in Gang gebracht hat, kann auf diesem Gebiet vielleicht langsam etwas freigesetzt werden; vor allem aber darf es nicht zu neuen Varianten der bestehenden, traditionellen Ausbildungen führen. Es muß vielmehr ein Ort und ein Klima geschaffen werden, wo die Dialoge über die Arbeit auf geruhsame Weise erweitert und vertieft und Erkenntnisse an wirklich Interessierte aus neuen Generationen weitergegeben werden können.

- Keiner dieser Künstler hat bisher das Bedürfnis geäußert, bewußte oder unbewußte Prinzipien, die seine künstlerische Arbeit bestimmen, auf eine nicht rein anekdotische oder informative, sondern eher theoretische Art und Weise zu verbalisieren. Dennoch stellen wir fest, daß die wichtigsten philosophisch-theoretischen Schriften in der Theatergeschichte immer das Werk von Menschen aus der Theaterpraxis gewesen sind; denken wir an Artaud, Brecht, Brook, Stanislawski usw., oder weiter zurück an Lessing, Kleist u.a.. Die Theaterschrift kann bei dieser Form von Theoriebildung eine Rolle spielen.

2. Der Dialog mit dem Publikum

- In den meisten Gesprächen mit Künstlern fallen wiederholt Bemerkungen wie, "du machst es für dich selbst", "der Prozeß ist wichtiger als das Resultat", usw.. In ihrem Essay "The Aesthetics of Silence” (1967) schrieb Susan Sontag, daß jeder Künstler, der seine Arbeit ernst nimmt, früher oder später mit dem Wunsch konfrontiert wird, seine Verbindung mit dem Publikum abzubrechen. "Silence exists as a decision”. Ein ambivalentes Verhältnis zum Publikum scheint eines der Leitmotive moderner Kunst zu sein: Die Notwendigkeit zur Kommunikation mit dem Zuschauer befindet sich im ständigen Kampf mit der Sehnsucht, die Kommunikation aufzuschieben. 'Dramaturgie' kann sich in diesen Prozeß auf vorsichtige Weise einmischen, indem sie einerseits die Stille respektiert und andererseits behilflich ist, sie zu durchbrechen. In diesem Spannungsfeld zwischen Künstler und Publikum muß die Wirkung der Theaterschrift gleichfalls angesiedelt werden.

- Der entscheidende Einfluß eines Publikums auf die Kontinuität künstlerischer Arbeit kann nicht genug betont werden. Peter Sellars sprach in diesem Zusammenhang von "the generosity as an audience making the experience possible”. Eine Theatervorstellung wird erst durch die Bereitschaft des Publikums möglich, bestimmte Codes anzunehmen, oder mit den Theatermachem auf die Suche nach neuen Codes zu gehen. Der theatrale Basiscode - nämlich die wesentliche Dialektik zwischen Fiktion und Wirklichkeit - scheint heute, am Ende des 20sten Jahrhunderts, eine fundamental andere Interpretation zu erfahren als beispielsweise zu Beginn dieses Jahrhunderts.

Es fragt sich, ob Theater heute, im Kontext weitgehender Mediatisierung, Entwirklichung und Fiktionalisierung der Wirklichkeit (siehe etwa die Rolle der Medien im Golfkrieg), noch als 'rein fiktionales' Medium bestimmt werden kann. Bereits seit geraumer Zeit spürt man bei fortschrittlichen Künstlern im Theater das Bedürfnis, 'mehr Wirklichkeit', 'mehr Materialität' auf die Bühne zu bringen. Gerät das alte Paradigma des Theaters, nämlich innerhalb eines definierten Zeit- und Raumgefüges 'zu tun als ob', und die Akzeptanz dieses Paradigmas beim Publikum, hierdurch ins Wanken?

Das Primat des 'So tun als ob' oder das Primat der 'Materialität des Augenblicks': Ist es vielleicht die Wahl zwischen diesen zwei Optionen, die heutzutage Breschen in die Theaterwelt, in die Art zu spielen, in die Art zu schauen, schlägt? Die Entscheidung für 'die Realität des Hier und Jetzt' geht von einer anderen Einstellung des Publikums aus. Um der Marginalität oder Isolierung der Künstler entgegenzuwirken, die das Basisparadigma des Theaters neu zu interpretieren suchen, müssen ihre Ausgangspunkte dem Publikum auf verschiedene Weisen deutlich gemacht werden: Auch hierbei kann die Theaterschrift ihre bescheidene Rolle spielen.

3. Das Verhältnis zur Wissenschaft

- Zwischen der Theorie und der Praxis des Theaters besteht eine große Distanz: Theaterpraktiker zeigen nicht selten einen unfruchtbaren, anti-intellektuellen Reflex; Theoretiker demonstrieren oft große Ungeschicklichkeit in Bezug auf die Theaterpraxis. Dennoch ist das 'Nachdenken über das, was man tut' eine natürliche und organische Tätigkeit. Alle Aspekte menschlichen Handelns erfahren so die notwendige Tiefe und Weiterentwicklung. Folglich braucht auch das Theater eine andere Einschätzung der Bedeutung von Wissenschaft / Theorie.

- Theorie, wie wir sie in der Theaterschrift praktizieren wollen, muß in erster Linie als 'Bewußtsein der Praxis' aufgefaßt werden; wenn dieses Bewußtsein von Künstlern wiederum in ihre praktische Arbeit investiert werden kann, dann hat die Theorie ihren Nutzen voll und ganz bewiesen / ihr Ziel erreicht; sie wird so ein wesentliches Element im künstlerischen Prozeß.

- Andererseits könnte die Theaterschrift dazu beitragen, das Bewußtsein zu schaffen, daß eine andere Wissenschaftspraxis in Bezug auf das Theater möglich ist. Vielleicht gelingt es, eine wissenschaftliche Methode zu entwickeln, die weniger speziell als vielmehr multidisziplinär ausgerichtet ist, die den Anspruch auf absolute Objektivität durch das Vertrauen in Intuition ersetzt usw.. Vielleicht ist Kunst heute wirklich eine der Möglichkeiten für den Menschen, die / seine Welt grundlegend zu erforschen...

4. Der europäische Kontext

- Als internationales Projekt hat die Publikation der Theaterschrift ihren Platz im gegenwärtigen, äußerst komplexen Kontext gesellschaftlicher Wirklichkeit in Europa und dem damit verbundenen Kulturbetrieb. Eine der Hauptaufgaben Europas in den kommenden Jahren wird es sein, 'diese auf allen Ebenen bestehende Komplexität kennen - und mit ihr umgeben zu lernen'. Das setzt ohnehin eine große Toleranz voraus.

- Die Theaterschrift, die gleichzeitig das kulturelle Leben in fünf verschiedenen Häusern in vier verschiedenen Ländern Europas zum Ausdruck bringen will, hat einerseits die Aufgabe, die Affinitäten unterschiedlicher Künstler, Arbeitsweisen und Zuschauer usw. zu definieren und andererseits aufzuzeigen, was sie voneinander unterscheidet. Mit anderen Worten: Die Arbeit der Theaterschrift besteht darin, diese Vielschichtigkeit 'deutlich zu machen' was nicht heißen soll, sie zu simplifizieren.

- Im europäischen Kontext erfüllt das Theaterschriftprojekt langfristig die Funktion einer 'organischen, übergreifenden Dramaturgie'. Eigentlich ist diese Arbeit mit der einer Hummel zu vergleichen: das ruhige Fliegen von Blüte zu Blüte, wobei sie unmerklich und beständig die Pollen, die an ihren Beinchen kleben, weitergibt: von einem Künstler zum anderen, von einem Theater zum anderen, von einer Disziplin zur anderen, vom Künstler zum Publikum und umgekehrt, von der Theorie zur Praxis und umgekehrt, undsoweiter, undsoweiter...



II. Die Welt als Kontext

1. Über das Thema

Als Thema für diese erste internationale Ausgabe wählten wir einen Gegenstand, der scheinbar nicht im Zentrum künstlerischer Prozesse selbst angesiedelt ist: den russischen Regisseur Anatolij Vassiliev, die amerikanische Performance-Künstlerin Laurie Anderson, die Niederländer, Regisseur Jan Ritsema und Regisseur / Schauspieler Tom Jansen, die flämischen Theatermacher Jan Fahre und Frank Vercruyssen, den deutschen Komponisten Heiner Goebbels und die ebenfalls deutsche Schauspielerin Edith Clever baten wir, auf ihre eigene Art und Weise die momentanen Entwicklungen in der Welt zu reflektieren; also keine Beschreibung ihrer eigenen künstlerischen Welt, sondern eine Reaktion auf die Welt als der Kontext, in dem ihre Arbeit entsteht. Das führte natürlich zu einer Reihe von Überlegungen hinsichtlich der Beziehung zwischen Mikro- und Makrokosmos im Schaffensprozeß. Die Gründe, um "die große Welt” als Ausgangspunkt zu nehmen, liegen auf der Hand: In den letzten Jahren haben in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Europas und anderswo solche einschneidenden Veränderungen stattgefunden, daß diese neue Situation unvermeidlich - früher oder später, direkt oder indirekt - einen Einfluß auf die Arbeit von Künstlern haben muß. Auf ihre Sicht der Welt, auf die Aufgaben, die sie sich selbst stellen, auf die Wege, die sie suchen, um diese zu vollbringen.

2. Über die Struktur

In der Gliederung dieser Schrift finden Sie als erstes Kapitel ein langes Gespräch mit dem russischen Regisseur Anatolij Vassiliev, eingeleitet vom Interviewer Michael Haerdter. Die Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit vollzogen sich in den letzten Jahren vor allem in Ost-Europa; wir, im Westen, standen dabei und schauten zu. Das gilt natürlich weniger für Deutschland, wo die Einigung auch im Westteil des Landes ihre Spuren hinterlassen hat, oder für Österreich, das sich nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs plötzlich im Herzen des Kontinentes befindet. Wie auch immer, für uns bleibt es sehr schwierig, uns ein Bild von den Wunden zu machen, die dem Osten zugefügt worden sind, und sei es lediglich, weil wir die vergangene Wirklichkeit dieser Gemeinschaften nur unzureichend kannten. Das Gespräch mit Anatolij Vassiliev will gewissermaßen einen Keil in unsere eigene Realität treiben. Konfrontiert mit seiner Gedanken- und Lebenswelt bleibt uns nichts anderes übrig als festzustellen, - wie Michael Haerdter es ausdrückte - "Rußlands Uhren gehen anders". Mögliche Arbeitszusammenhänge mit Künstlem aus dem ehemaligen Ostblock werden in Zukunft nur mit einer enormen Bereitschaft zum Hören und Verstehen zustandekommen können.

Das zweite Kapitel umfaßt Interviews / Resultate aus Gesprächen mit vier Künstlern - Jan Ritsema, Laurie Anderson, Tom Jansen und Heiner Goebbels - die, grob gesagt, zur 68er Generation gehören. (Heiner Goebbels ist allerdings etwas jünger und wird möglicherweise heute weniger durch ehemalige politische Erwartungen beeinträchtigt.) Beim Lesen ihrer Worte kommt das Gefühl auf, daß viele der früher üblichen Denkkategorien endgültig der Vergangenheit angehören, daß sich ein wachsendes Bewußtsein für die Komplexität der Wirklichkeit bildet und daß es ein großes Bedürfnis gibt, diese Wirklichkeit und die eigene künstlerische Praxis zu erforschen, zu nuancieren und in Frage zu stellen.

Das dritte Kapitel enthält drei kürzere Stellungnahmen: Wir baten Edith Clever, Jan Fahre und Frank Vercruyssen um eine kurze, sehr persönliche Reaktion zur genannten Problematik. Die beiden Letzteren gehören zu einer jüngeren Generation, der die hoffnungsvollen Ideale der späten sechziger-, frühen siebziger Jahre fremd sind. Jan Fahre beantwortete die Einladung, indem er zwei Bilder und einen Text einander auf herausfordernde Weise gegenüberstellte. Aus Edith Clevers Worten klingen Wehmut und der hartnäckige Wille, einige Werte zu bewahren, die heute verloren zu gehen drohen. In Frank Vercruyssens Text fühlt man seine Wut, seine Machtlosigkeit, seinen Schmerz über die Ereignisse in der Welt.

Wenn es einen roten Faden in all diesen Aussagen gibt, dann, daß diese Künstler, jeder auf seine Weise, tief betroffen sind von dem, was mit dem Leben und in der Welt geschieht: Die Gleichgültigkeit haben sie weit hinter sich zurückgelassen.

3. Über die Leitmotive

Aber es gibt noch mehr Leitmotive. Eines davon ist das Problem, sich eine Wirklichkeit vorzustellen, die man nicht selbst erlebt hat. In vielen Aussagen tritt hierbei der Begriff Erfahrung in den Vordergrund: Sie wird als (einziger) Weg betrachtet, um sich das Wissen über die Wirklichkeit anzueignen. Erfahren bedeutet "am eigenen Leibe erleben", bedeutet "betroffen sein"; nochmals: Jenseits der Gleichgültigkeit. Die Wahrnehmung ist das grundlegende Werkzeug für dieses Erfahren und die Künstler scheinen sich durchaus der Tatsache bewußt zu sein, daß Wahrnehmung heutzutage mehr oder weniger tiefgreifend beeinflußt oder sogar manipuliert wird (die Rolle der Medien, die Form der Berichterstattung wird in den Aussagen mehrmals erwähnt); mehr noch, sie versuchen in ihrer Arbeit mit diesen Gegebenheiten umzugehen: sie spielen damit, neutralisieren sie oder probieren ihren Einfluß bewußt zu vemichten. Das Verhältnis von 'echt' und 'unecht' wird zu einem ihrer wichtigen Anliegen.

In Bezug auf die globale Vorstellbarkeit der Wirklichkeit machen sich diese Künstler wenig Illusionen: Sie glauben nicht mehr an das 'Große Ganze'. "Das Denkbild 'alles muß eins sein' hat seine Anziehungskraft verloren und kann nicht länger verteidigt werden. Warum soll alles eins sein? Ist 'vielerlei' nicht viel besser?" (György Konrad). Die Geschichte der Welt kann nur noch in Brüchen und Sprüngen erzählt werden. Trotz dieses Bewußtseins bleibt die Sehnsucht nach Einheit spürbar; zum Ausdruck kommt das unter anderem in dem Bedürfnis nach einem Verhältnis zur Vergangenheit, zu den eigenen kulturellen und anderen Wurzeln. Wurzeln, Geschichte, Geschichten erzählen: Für diese Künstler haben sie immer wieder etwas miteinander zu tun.

Der problematischen Vorstellbarkeit / Kenntlichkeit der Wirklichkeit steht, paradox genug, eine Leichtigkeit im Umgang mit Utopie gegenüber: Diese Künstler fordern das Recht zu träumen und weiterhin zu träumen, um sich auszudenken, wie die so schwer vorstellbare Wirklichkeit auch anders aussehen könnte.

Die Kraft des Traumes scheint die einzige Macht zu sein, über die die Kunst heute noch verfügt. Beinahe ohne Ausnahme wird in diesen Aussagen die Machtlosigkeit des Theaters zugegeben. Seine Marginalität, die geringe öffentliche Reichweite - z.B. im Vergleich mit der Hauptsendezeit des Fernsehens - werden nicht weggeredet, im Gegenteil. Der Künstler sieht sich selbst nicht (mehr) als Weltverbesserer. Edith Clever fühlt sich als "ein kleiner Ton in dem großen Ganzen", Jan Ritsema möchte gerne "auf der richtigen Seite stehen", Heiner Goebbels denkt, daß Kunst vielleicht 'Freiräume besetzen kann", usw.: mit anderen Worten, die Aufgaben, die sich die Künstler im heutigen Kontext stellen, sind sehr bescheiden. Ihre kreative Arbeit deckt sich mit ihren Antworten auf die Fragen der Welt.

4. Über das Übersetzen

Zum Schluß noch etwas zur Mehrsprachigkeit dieser Schrift. Jeder Text ist in vier Sprachen abgedruckt, die Originalsprache fett; schon für das Interview mit Vassiliev trifft das nicht zu: Dieses Gespräch wurde ursprünglich in Russisch geführt. Wir sind uns durchaus bewußt, wieviele "Filter" durch dieses Übersetzen zwischen die eigentlichen Worte der Künstler und den Text, den Sie schließlich lesen, geraten. Unser Wunsch, ihre Aussagen so genau wie möglich aufzuzeichnen, wird damit bereits auf die Probe gestellt. Die Übersetzungen strebten nach einer möglichst wort-wörtlieben Wiedergabe ihrer Worte, auch wenn die Eigenheiten der betroffenen Sprache manchmal darunter gelitten haben. Das richtige Gleichgewicht suchen wir noch.

"Worte, darauf muß man klopfen wie auf eine Stimmgabel. Klingt es gleich, und ist es dann das Gleiche?" (Cees Nooteboom, Berliner Notizen). Wir haben das Übersetzen als einen verzögernden, aber wichtigen Kampf erfahren; Übersetzen als Bemühung, einander, koste es, was es wolle, zu verstehen, um - wenn wirkliche Verständigung nicht zustandekommt - doch zu erspüren, worum es geht. Vielleicht ist uns das nicht immer gelungen, aber wir betrachten diese Pflicht, zu 'versuchen zu verstehen', als wesentlichen Bestandteil unserer neuen europäischen Realität: Übersetzen als Tat der Geduld und der Toleranz; Übersetzen jenseits der Gleichgültigkeit.

Also dann. Möge die Hummel ihre Arbeit beginnen.

Marianne Van Kerkhoven, Brüssel, 11. März 1992