Tanz und Musik - die gegenseitige Infektion


Ein Gespräch mit Anne Teresa De Keersmaeker und Thierry De Mey (Heft 9)

Am 30. November 1994 wurde 'Amor Constante mas alla de la muerte', eine Tanzvorstellung der Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker und des Komponisten Thierry De Mey, zum ersten Mal inszeniert: Die musikalische und die kinetische Partitur kamen 'zusammen' zustande. Schon früher und zwar im Jahre 1983, anläßlich der Aufführung 'Rosas danst Rosas ", hatten der Komponist und die Choreographin in einer ähnlichen, intensiven Weise zusammengearbeitet.


EINS

Anne Teresa De Keersmaeker
Zwischen diesen beiden Stücken liegt ein erfahrungsreicher Lebensweg. 'Amor Constante' ist mein fünfzehntes Stück; "Rosas danst Rosas" war mein drittes. Thierry schrieb seit 1983 noch 'Tanzmusik' für Michele Anne De Mey und Wim Vandekeybus, aber auch viel 'reine' Musik, also nicht für Tanzaufführungen. Die Zusammenarbeit an 'Rosas danst Rosas' wurde vor allem durch die 'Entdeckung' unserer eigenen wie auch der gemeinsamen Möglichkeiten geprägt. Bei 'Amor Constante' wurden ausgereifte Erkenntnisse der Arbeit miteinander konfrontiert.

Die Musik von 'Rosas danst Rosas' war repetitiv geartet. Als erst einmal der musikalische Kern aufgebaut war, verfügte man also von einem rein praktischen Standpunkt aus über eine Art von Gewebe/Struktur, von dem aus die Choreographie entwickelt werden konnte. Bei den meisten Teilen von 'Amor Constante' war es jedoch unmöglich, das choreographische Gewebe in Angriff zu nehmen, solange die Komposition der Musik noch nicht vollendet war. Dies führte ab und zu zu einer nur schwer zu überbrückenden Diskrepanz zwischen Musik und Tanz.

Ich neige manchmal dazu zu sagen, daß die Arbeit heute komplexer als früher ist. Aber im Grunde ging es bei 'Rosas danst Rosas' um eine andere Art von Komplexität als jetzt bei 'Amor Constante'. Die maximale Ausnutzung des Minimalismus von 'Rosas danst Rosas' steht der größeren Vielfalt des Stoffes von 'Amor Constante' gegenüber.

Thierry De Mey
Bei 'Rosas danst Rosas' entschied man sich eher dafür, an Mitteln zu sparen: Wir versuchten, eine geballte Struktur zu schaffen, ein Knäuel voller Kraft und Energie, wie eine Saat, die potentiell einen ganzen Baum in sich trägt. Das Maß an Komplexität, mit dem ein Mensch fertig werden kann, bleibt im wesentlichen immer noch genauso groß. Allerdings treten Verschiebungen auf: Manchmal vereinfacht man äußerst stark eine bestimmte Zone, so daß Raum für eine andere Art der Wahrnehmung geschaffen wird. Vielleicht hat sich auch unser Verhältnis zur Tradition geändert: Neigte man am Anfang dazu, ein auf sich selbst gestelltes, in sich geschlossenes Werk, geballte Energie, zu schaffen, stellt man sich jetzt Fragen wie 'Was ist eigentlich eine Fuge?' oder 'Was ist die Struktur einer Arie?'

Anne Teresa De Keersmaeker
Das stimmt: Bei der Arbeit an 'Rosas danst Rosas' entwickelten wir eine Reihe von Strukturen ohne die geringsten Vorkenntnisse auf dem Gebiet der Formen, die zuvor bereits von anderen verwendet worden waren. Es war, als würde ich alles zum ersten Mal entdecken oder herausfinden.


ZWEI

Thierry De Mey
Wir waren uns dessen damals wahrscheinlich nicht bewußt, aber bei der Arbeit an 'Rosas danst Rosas' ließen wir den Minimalismus im Grunde in die Fallstricke laufen, die er selbst gelegt hatte. Der Minimalismus wird durch seine eigenen Mittel und Prinzipien unterminiert. Die Ausgangspunkte waren tatsächlich Ideen in Zusammenhang mit der Vereinfachung und Verdünnung des Grundstoffes. Aber dort, wo der Minimalismus vom Gedanken einer Art von 'Loslösung' ausging, warfen wir deren Ästhetik vollkommen um. Wir bedienten uns der Schlichtheit, um ihr einen noch größeren emotionalen Wert zu verleihen. Die Minimalisten versuchen meistens, die existentielle Spannung zu lösen, indem sie das Subjekt gleichsam verschwinden lassen. Bei 'Rosas danst Rosas' geschah aber genau das Gegenteil: Die minimalistische Musik und Choreographie waren wie eine Mauer, gegen welche die vier Tänzerinnen prallten. Aufgrund der so unerbittlichen Strenge dieser Mauer wurde bei dieser Konfrontation wieder ein äußerst intensiver existentieller Inhalt frei. Die Musik hatte eine sehr genaue Zeiteinteilung. Die Choreographie arbeitete zwar mit derselben Strenge mathematischer Strukturen, aber innerhalb dieser Choreographie bewegten sich vier lebendige Menschen. In einer Art von Höllenmaschine gefangen verlieh jeder Blick auf einander, jedes Lächeln, jedes Anzeichen der Ermüdung bzw. ganz einfach die Tatsache der Anwesenheit der vier Tänzerinnen der Aufführung einen sehr greifbaren und mitreißenden Charakter. Diese Art der Konfrontation erforschten wir bei der Arbeit an 'Rosas danst Rosas' voll und ganz. Es hatte also keinen Sinne, diese Vorgehensweise bei der Arbeit an 'Amor Constante' zu wiederholen. So konzentrierten wir uns dabei auf die Schaffung eines Spektrums an Aktivitäten und Funktionsmechanismen, was uns von Anfang an zwang, eine viel subjektivere Spur beim Schreiben zu verfolgen.

Anne Teresa De Keersmaeker
Einerseits ging man bei 'Amor Constante', z.B. in den Geigensonaten, von einer Schrift aus, die noch stark an die Persönlichkeit der Tänzer gebunden war. Andererseits dienten bestimmte Methoden und Verfahren als Ausgangspunkt, wie etwa bei 'Kinok' und im Perkussionsteil. Bei 'Amor Constante' beruhte die Vorgehensweise auf einer größeren Abwechslung der Strategien sowie auf dem Versuch, diese verschiedenen Strategien doch zu einem einheitlichen Ganzen zu verarbeiten. Vielleicht hat diese Arbeitsweise etwas mit einer anderen Wahrnehmung der heutigen Welt zu tun


DREI

Anne Teresa De Keersmaeker
Stücke wie 'Fase' oder 'Rosas danst Rosas' konnte ich nur so machen, weil ich darin selbst als Tänzerin anwesend war. Wenn man selbst mittanzt, gibt man eine andere Art von Überzeugung weiter: Man baut sich dann seinen Stoff auf der eigenen Energie auf. Auch beruht(e) ein Stück wie 'Rosas danst Rosas' auf der weitgehenden Übereinstimmung zwischen den Tänzerinnen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Schaffung von Bewegungen, die der Materialität der Körper der Tänzer entspringen, und der Schaffung von Bewegungen, die mit seinem eigenen Leib verbunden sind. Im ersteren Fall arbeitet man vor allem mit seinem Blick, seiner Position 'von draußen aus'. Im letzteren Fall sitzt man ganz 'drinnen': Das ergibt jedes Mal eine andere Art von 'Bildhauerei'. Für mich liegt der Unterschied hauptsächlich zwischen dem 'Drinnen' und dem 'Draußen': selbst mittanzen oder dem Tanz von draußen aus zuschauen. Auf der einen Seite bereichert einen das 'draußen', weil man auch den Wortschatz der Tänzer mitbekommt. Auf der anderen Seite gibt es mir aber auch ein Gefühl des Verlustes.

Stücke wie 'Amor Constante' oder 'Mozart/ Konzertarien' wurden mehr aus jenem Element heraus entwickelt, welches das Bewegungsmaterial von einem Tänzer zum anderen unterscheidet. Die Anzahl von Personen, für welche man eine Choreographie schreibt, ist natürlich ziemlich bestimmend: Sobald man eine Anzahl von vier oder fünf Tänzern überschreitet, gerät man auf eine andere Ebene. In jeder Vorstellung spiegelt sich mehr oder weniger das Leben einer Gruppe wider. Weder Musiker im Kampf mit ihrer Partitur, noch Schauspieler im Kampf mit ihrem Text proben auf eine so intensive Weise wie Tänzer. Es geht stets um das Aufeinandertreffen zwischen der Wirklichkeit einer Gruppe (die Möglichkeiten, Zweifel, Ängste, usw. dieser Menschen) und einem souveränen geistigen Konzept, es geht um das Aufeinandertreffen zweier Dinge, die vom ersten Arbeitstag an miteinander verbunden waren.

Thierry De Mey
Auch die Tatsache, ob man in einem Saal mit oder ohne Spiegel arbeitet, führt zu einem unterschiedlichen Gesichtspunkt. Mit oder ohne Spiegel, mit einer Videokamera, mit einem Computer oder ganz einfach der Blick von draußen des Choreographen: Alle diese Ausgangspunkte und/oder Methoden sind auf die eine oder andere Weise im Werk 'spürbar'. Man könnte eine Parallele zum Komponisten ziehen: Es besteht ein großer Unterschied, ob man selbst Instrumentalist ist oder nicht. Am Anfang schreibt man nur Kompositionen, die man auch selbst spielen kann. Will man später seine eigene Schrift entwickeln, ist man gezwungen, mit Menschen zu arbeiten, die bessere Instrumentalisten sind, die mehr mit ihrem Instrument können als man selbst zu spielen vermag. Für mich war das ein wichtiger Punkt: der Augenblick, in dem man nicht mehr imstande ist, seine eigene Musik zu spielen. Alle großen Komponisten trieben die Entwicklung der Technik der Musiker, die ihre Musik aufführten, weiter. Nach der Schaffung und Interpretation zum Beispiel eines Geigenkonzerts von Brahms war die Geige nicht mehr dasselbe Instrument wie vorher


VIER

Thierry De Mey
Vielleicht ist es eine wahnsinnige und riskante Idee, Musik und Choreographie in einem Zug entwickeln zu wollen, doch fühle ich mich von der Schönheit dieses Risikos angezogen. Oft kommen Tanzaufführungen aufgrund einer Erzählung, einer Geschichte, d.h. aufgrund von etwas, das weder der Musik noch der Choreographie angehört, zustande. In ihrem ganzen Werk versucht Anne Teresa ganz im Gegenteil, den musikalischen Einsatz zu erfassen und dazu choreographische Transpositionen zu finden, ohne den Umweg einer Erzählung zu nehmen. Ausnahmen sind 'Mozart/Konzertarien', wo jedes der verwendeten Lieder ein Thema hat, und 'Ottone, Ottone', das auf Monteverdis 'L'Incoronazione di Poppea' beruht. Auf eine andere Weise brachten wir in 'Amor Constante' Parameter von draußen ein, um Musik und Choreographie miteinander kommunizieren zu lassen. So sprachen wir zum Beispiel über die Verwendung von Spiralen: Jeder begab sich auf sein Gebiet, das musikalische bzw. das choreographische, und suchte nach einem Äquivalent für den Begriff 'Spirale', während doch die Spirale ein 'Bild' ist, welches weder der Musik noch dem Tanz angehört. Durch das Einbringen dieses 'Elements von draußen' konnten die Musik und der Tanz in ihren Kraftlinien zueinanderfinden.

Beim 'Kinok'-Teil von 'Amor Constante' gingen wir beide von einer Zeiteinteilung aus: Weder die Musik noch der Tanz ordneten sich einer bestimmten Struktur im Hinblick auf die Dauer unter. Indem wir zwei 'Zeitserien' ineinander verschachtelten, eine Serie, in der sich die Zeit beschleunigte, und eine andere Serie, in der sich die Zeit verlangsamte, erreichten wir sowohl für die Musik als auch für den Tanz eine sehr reiche, dichte Zeitstruktur. Aber wir wollten diesen zeitlichen Rahmen noch überschreiten.

Eines der Mittel dazu war die Verbindung der Klangfarbe bestimmter Instrumente mit bestimmten Persönlichkeiten innerhalb der Gruppe von Tänzern. So folgt in 'Kinok' die Oboe der 'roten' Strecke von Marion Ballester, das Cello der von Philipp Egli. Wenn Marion und Philipp als Paar auftreten, wird dem Oboenpart ein Klavierpart hinzugefügt. Jedes Mal, wenn das Thema der Liebe zurückkehrt, wie etwa am Ende der Vorstellung, ist die Klaviermusik da. Es gibt also Assoziationen zwischen den Themen, zwischen den Personen, zwischen dramatischen Situationen, usw.

Im Perkussionsteil wurde eine andere Arbeitsweise eingeführt. Hier geriet das Komponieren in Rückstand gegenüber dem Choreographieren. Die Tänzer hatten in aller Stille an einer Anzahl von Basisrhythmen gearbeitet. Hinterher entzifferte ich diese zusammen mit dem Dirigenten Georges-Elie Octors. Wir dachten uns eine Notierungsweise dafür aus und rekonstruierten die Rhythmen in der Musik. Die musikalischen Rhythmen wurden somit gleichsam von den Bewegungen der Tänzer kopiert.

In 'Enredadera', noch ein anderer Teil von 'Amor Constante', wurde die zeitliche Einteilung der Musik in ein räumliches Faktum umgesetzt: In Übereinstimmung mit dem Goldenen Schnitt wurde der Raum in Spiralen eingeteilt. Über den Umweg dieser Raumstrukturen konnten Musik und Choreographie auf einen Nenner gebracht werden, wenn auch die Dauer einer 'Tanzzelle' sehr verschieden von der einer 'musikalischen Zelle' sein konnte.



FÜNF

Anne Teresa De Keersmaeker
Im Laufe dieses Arbeitsprozesses setzen wir also sehr unterschiedliche Methoden und Strategien ein. Außerdem wurde die Musik live dargeboten, was die Zerbrechlichkeit und Komplexität der Aufführung noch vergrößerte. Die Wahl, mit einer zeitgenössischen Komposition zu arbeiten, birgt ein gewisses Risiko in Bezug auf ein breiteres Publikums. Die zeitgenössische Musik enthält mehr Zerissenheit, Unordnung und Dissonanz sowie weniger Harmonie als etwa eine Komposition von Bach ('Toccata') oder Mozart ('Mozart/Konzertarien'). Die zeitgenössische Musik ist ein Bild ihrer Zeit. Sie ist viel weniger beruhigend in ihrem Farbklang. Deshalb ist sie wohl auch 'schwieriger' für das breite Publikum. Die Wahl zeitgenössischer Musik tritt auch dem sogenannten 'popular entertainment' und der Fernsehkultur entgegen. Dies ist kein moralisches Urteil, aber ich empfinde das 'Futter', das uns ständig von den Medien zugeschoben wird, als eine ungeheure Verarmung.

Thierry De Mey
Es muß in der Tat ein Widerstand gegen diese Spirale der Verarmung aufgebaut werden, soll das menschliche Abenteuer nicht vollkommen seinen Wert verlieren. Was mich anbelangt, beinhaltet das sehr wohl ein moralisches Urteil. Auf dem Gebiet der Besprechung von Kunst und Kultur befinden wir uns bereits in einer ganz anderen Situation als vor etwa zehn oder zwanzig Jahren. Heute sind sehr deutliche Standpunkte gefordert. Es muß zu einem Kampf für die Schaffung von Musik und Tanz sowie für deren gegenseitige Beziehung kommen. Eines der Probleme der zeitgenössischen Musik ist die Tatsache, daß sie ihren physischen Charakter, ihre Beziehung zum Körper verloren hat. Jede Praktik, die sich in ihrem eigenen kleinen Kreis einschließt, verliert an fundamentalem Wert. Ich versuche stets, mir meine Musik als Bewegung, als Wellen, als Kraftlinien, als Weitergabe von Energie vorzustellen. Diese Art von Kraft finde ich sowohl im Gregorianischen Gesang als auch in der Musik von Bela Bartok wieder

Anne Teresa De Keersmaeker
Als ich für die Aufführung von 'Ottone, Ottone' eine Wahl hinsichtlich der Interpretation und Orchestration von Monteverdis 'L'Incoronazione di Poppea' treffen mußte, entschied ich mich aus genau demselben Grund für die Version von Harnoncourt: Für mich ist sie allen anderen Versionen überlegen, weil sie als Bewegung, als emotionsbeladene Bewegung gedacht ist

Bei der Entwicklung der kommerziellen Musik wurden der 'pulse' bzw. der 'beat' und die Melodie fortdauernd manipuliert: Man hat das Gefühl, nicht mehr ohne sie auszukommen. Die Arbeit mit einer zeitgenössischen Musik, die nicht auf 'pulse' beruht, ist heutzutage nicht mehr gebräuchlich. Wenn man andererseits 'pulse' oder Melodie verwendet, läuft man Gefahr, sich Dingen zu nähern, die man genau nicht tun will. Auch beim Tanz verändert die An- bzw. Abwesenheit dieser Art von 'pulse' sehr stark den Charakter der Bewegungen. Denken Sie nur einmal daran, wie in einer Diskothek getanzt wird. Der Mensch hat nie aufgrund von Vogelgesang zu tanzen begonnen. Zwar hat er diese Art von Klängen bewundert, aber sie brachten ihn nicht zum Tanzen, obwohl es sich um herrliche Musik handelt.


SECHS

Thierry De Mey
In der Welt des traditionellen Tanzes wird das Verhältnis Musik/Tanz von der Musik beherrscht: Sie diktiert die Impulse. In ihrem gemeinsamen Werk lösten Cage und Cunningham diese zwei Disziplinen voneinander los und verliehen einer jeden Autonomie. Um diese Autonomie zu erreichen, um den beiden Disziplinen ein Existenzrecht im Raum zu geben, war es in der Tat notwendig, das traditionelle Verhältnis auf- bzw. entzweizubrechen. Dadurch konnte der Tanz endlich seine Souveränität erringen. Sind aber die zwei Disziplinen erst einmal voneinander losgelöst, steht man im Grunde vor einer Mauer. Arbeitet man erst einmal 'nicht synchron', ist es nicht mehr möglich, noch 'unsynchroner' zu arbeiten. Die Komponisten, die in ihrer Musik mit Aleatorik arbeiten, stehen vor demselben Problem: Man kann den Zufall spielen lassen, aber es gibt keine erste oder zweite Steigerungsstufe von 'Zufall'. Auch in der Kunst muß man die 'Sackgassen' erkennen. Diese Loslösung von Musik und Tanz birgt eine Gefahr für die kommenden Generationen: Man verliert die Möglichkeit, mit jenem zu kommunizieren, womit Musik und Tanz einander gegenseitig bereichern können. Wenn diese beiden Disziplinen nicht mehr miteinander kommunizieren, laufen sie beide Gefahr zu verarmen.

Anne Teresa De Keersmaeker
Für mich wirft diese Frage das Problem der Veränderung auf: Im Grunde braucht man in seinem Werk immer wieder neue Herausforderungen. Bewahrt man dreißig Jahre lang dieselben Ausgangspositionen wie Cunningham, so ist das meiner Meinung nach problematisch. Alles ist fortwährend in Bewegung. Ich habe das Verwerfen oder sogar das Zerstören der Tradition nie als eine Notwendigkeit für mein Werk empfunden.

Thierry De Mey
Es ist eine Binsenwahrheit, daß jeder Künstler im Grunde seine eigenen Kommunikationsmittel herausfinden muß und sich innerhalb dieses Rahmens weiterentwickeln kann oder auch nicht. Gemeinschaftliche Formen gibt es heute eigentlich nicht mehr. In der Barockzeit bestand beispielsweise eine große Kontinuität zwischen einerseits demjenigen, welcher die Musik schuf und die Partitur verfaßte, und andererseits dem Publikum und dem sozialen Hintergrund, in welchen sich diese Musik einfügte. Heute wird von den Künstlern erwartet, daß sie sich weiterentwickeln, daß sie Formen niederreißen. Einerseits sieht man Künstler, die in den Mahlsand geraten und Strukturen aufbauen, die nicht akzeptiert werden: Sie laufen Gefahr, sich in einem kleinen Kreis einzuschließen. Andererseits sieht man Künstler - und in der Welt der bildenden Künste nimmt dies bisweilen karikaturistische Formen an - die einmal einen Fund machen und diesen dann für den Rest ihres Lebens ausnutzen.


SIEBEN

Thierry De Mey
Im Grunde ist das Verhältnis von Musik und Tanz etwas, worüber man kaum sprechen kann, eine Art Poesie. In einer seiner Einleitungen zu 'Les Fleurs du Mal' beschreibt Baudelaire die 'Bewegungen' der Poesie als Überflutungen, Brüche, Spiralen, Fallen, usw. Was meint er eigentlich damit? Im Grunde gibt es keine Worte dafür, was man fühlt: Das Verhältnis von Tanz und Musik muß für uns auf der Hand liegen, es klappt oder es klappt nicht. Wir sprechen 'darüber', wir sprechen über ein Gebiet, über das wir eigentlich gar nichts sagen können. Wir halten es für wichtig, über Spiralen, Zeiteinteilungen, Beschleunigungen, usw. zu sprechen: Das ist die Rede 'darüber'. Der letzte Satz von Wittgensteins 'Tractatus logico-philosophicus' lautet folgendermaßen: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen". 90 % der wichtigsten Dinge im Leben sind Dinge, worüber man nicht sprechen kann, die man erleben muß.

Einer der wichtigsten Prozesse sowohl bei der Zusammenarbeit von Komponist und Choreograph als auch von Musikern und Tänzern sowie bei der Zusammenarbeit der Tänzer unter sich ist eine Art von 'Verseuchung'. Man spricht zum Beispiel von Spiralen, ohne genau zu wissen, was man damit meint. Aber allmählich entsteht eine Kommunikation, eine 'Verseuchung'. Allmählich beginnt man, sich zu verstehen, sich zu spüren. Man bricht Dinge entzwei, man faßt Schlüssel an ... es ist sehr schwierig, das in Worte zu fassen. Wenn man zuviel sagt, zuviele Dinge nennt, geht man zu weit, dann bringt man die Leute dazu zu glauben, das sie das, was man sagt, tun müssen.

Anne Teresa De Keersmaeker
Wenn man schreibt und konstruiert, ist man im Grunde vor allem mit der Form beschäftigt. Ich empfinde eine gewisse Scheu, die Dinge zu sehr zu benennen oder anzufassen. Im Grunde geht alles von einer Grundlage des gegenseitigen Vertrauens aus.

Das Gespräch führte Marianne Van Kerkhoven in Brüssel am 24. Januar und am 3. April 1995