Wenn Wut zur Form gerinnt


Ein Text von Hans-Thies Lehmann über Jan Fabres 'Ästhetik der Vergiftung' (Heft 3)

(...) Jede, auch die ästhetische Formalisierung eines Gegenstands impliziert einen aggressiven Akt der Reduktion, der Form-Erzwingung, der autoritären Fesselung des Gegenstands. Und das nicht erst bei der Quälerei der Ballettschulung, bei körperlichen Gefahren für die Schauspieler oder beim Tod von Tieren. Schon die formale begriffliche Subsumtion verneint, indem sie davon absieht, das Eigenrecht des Besonderen, das sie zum Exemplar macht. Nicht anders das Verfahren extrem geometrisierender Formalisierung, ein offenkundiges Kennzeichen von Fabres Theater. Doch läßt hier paradoxerweise das Theatergerade durch Serialität, Wiederholung und Symmetrie den Sinn für die winzigen Unterschiede wachwerden, für die körperlichen Unterschiede der Kraft, der Gestalt, der Bewegungsweisen zumal. Das Streben nach Perfektion läßt den Grund ihrer Unerreichbarkeit - Eigenart, Besonderheit, Schwäche des menschlichen Körpers - zur Erfahrung werden. Wenn in 'Die Macht der theaterlichen Torheiten' die physische Erschöpfung der Spieler von innen her die Symmetrie zerstört und so aus der Form das geformte Material wieder ausbricht, erfolgt ein Umschlag von Qualität in Quantität. Die äußerste Aggression, die den Körpern angetan wurde, die Uniformierung, die den individuellen Körper der Lust und der Empfindung leugnet zugunsten des funktionierenden Arbeits- und Tanzkörpers - gerade diese Aggression kehrt sich um in die Ausstellung des von der Formalisierung geknechteten Einzelkörpers. Einerseits unabdingbares Moment noch der völlig spontan scheinenden ästhetischen Gestalt, produziert Formalisierung umgekehrt als mathematische oder ornamentale Struktur individualisierende ästhetische Effekte.
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Schmerz, Gewalt, Tod und die davon ausgelösten Gefühle, Furcht und Mitleid, standen seit der Antike im Zentrum des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Heute übersetzen wir 'eleos' und 'phobos' eher als 'Jammer' und 'Schaudern'. Sie sollen beim Zuschauer der attischen Tragödie, Aristoteles zufolge, 'Katharsis' bewirken, eine Reinigung von eben diesen Zuständen des Jammers und Schauders. Ob man das nun als Befreiung von solchen Gefühlen, als ihre Mäßigung, als ihre Verfeinerung oder als Abreagieren versteht, in jedem Fall impliziert diese Prozedur der Reinigung eine Art psychophysische Attacke auf den Zuschauer. Theater ist nicht Gegenstand kontemplativer Betrachtung, sondern nimmt den Zuschauer mit. Und zwar auf eine Reise, die ihn verändern könnte. Das Reich des Scheins ist nicht abgesondert von der Lebenswelt, sondern ihr Bestandteil.
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In den modernen Theateravantgarden hat eine neue Version der aischyleischen Formel 'Durch Leiden Lernen' Bedeutung gewonnen. Gegen Entkörperlichung und Abstraktion, auch gegen die anscheinend grenzenlose Fähigkeit der modernen Gesellschaft, das gegen sie gespritzte Gift der Kritik, um mit Brecht zu reden, in Rauschgift zu verwandeln und dieses zu genießen, gegen die Teilnahmslosigkeit und gegen die Verwandlung von Kunst in folgenlosen Konsum hielten die Futuristen und Dadaisten Schock und Schmerzerlebnis (bis zu provozierten Schlägereien). Ausgestellter Schmerz, oft an und jenseits der Grenze zu öffentlichem Masochismus, war ein Thema von performance-Künstlern seit den sechziger Jahren. Auf die elektronische Derealisierung wird theatralisch mit der Provokation durch gespielte Aggression an der Grenze zur Körperverletzung reagiert.

Jan Fabre steht zugleich innerhalb und außerhalb dieser Strömung. In ihr durch den aggressiven Impuls, außerhalb, weil er nach den Anfängen mit Performance die Trennlinie zum Publikum in seinem Theater aufrecht hält. Hier funktioniert die Aggressivität durch Formalisierung. In dieser Dialektik besteht seine Originalität. Was in Fabres Arbeiten als bildender Künstler die furiose Attacke mit den prosaischen bic-Blau-Schreibern auf riesige Flächen, das ist im Theater die Attacke gegen das Publikum und dessen Widerstand. Der Terror durch extreme Wechsel von langen Phasen scheinbaren oder wirklichen Stillstands zu quälender Lautstärke, die moralisch provozierende Verwendung quasimilitärischer Uniformierung und Funktionalisierung der Spieler oder die schmerzhafte Zeitdehnung sind öfter diskutiert worden. Hier soll von anderen Aspekten die Rede sein, für die ich den Namen 'Ästhetik der Vergiftung' vorschlagen will. Das griechische Wort 'pharmakon' bezeichnet zugleich eine heilende Medizin und ein gefährliches, vielleicht tödliches Gift. Und in dieser Ambiguität bieten sich Fabres Theaterbilder dar.

Als Emblem dafür ist das Solo von Els Deceukelier mit Worten von Marcel Duchamp anzusehen, 'Zij was en zij is, zelfs' (Sie war und sie ist, sogar). Die erotische Gestalt im weißen Brautkleid, der ironische Text von Marcel Duchamp, die immer wieder verfremdete und gebrochene Ausstellung des Begehrens findet auf einer leeren Bühne statt. Nur - kleine, unangenehme Störung - die Akteurin ist doch nicht ganz allein. Hinten, vorn rechts und vorn links erkenne ich auf der Bühne große, wenn auch unbewegliche Vogelspinnen. (...) Ab und an glaube ich, an der mir nächstbefindlichen Spinne eine kleine Bewegung wahrzunehmen: unangenehm. Giftig. Ich verfolge den um Lust und Erotik kreisenden Text, verfolge das Spiel, doch immer wieder zieht es die Aufmerksamkeit auf diese Mitbewohner der Bühne, immer wieder steigen Fragen auf, die die Grenze betreffen: Begibt sich Els Deceukelier etwa mutwillig in Gefahr? Wird nur meine Projektion provoziert, denn man hat die Spinnen entgiftet? Sie bewegen sich nicht, oder doch?... ein ganz klein wenig - Leben oder Tod? Realität oder Fiktion? Sind es Attrappen? Und vergiftet am Ende nicht schon allein der Ekel den Anblick des Bühnenraums?
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Das Bild der Schönheit, der Lust und des Begehrens wird präsentiert, aber ein Element der Störung ist hinzugefügt, ein sozusagen giftgrüner Farbton. Er macht den Genuß partiell zunichte, stachelt ihn zugleich auf einer anderen Ebene der Reflexion auch an. Man hat mit Recht auf eine barocke Linie bei Fabre verwiesen, und tatsächlich gleicht Fabres Bühne hier jenen barocken Stilleben, wo die lebendig blühenden Früchte von allerlei eklem Getier zernagt werden, um allegorisch memento mori und vanitas anzuzeigen. Ein Theater des Todes, in dem die Erinnerung daran umspielt wird, daß es der von der Sünde vergiftete Apfel der Erbsünde war, der zugleich mit dem Wissen die Sterblichkeit provozierte.
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Nicht in einzelnen Themen und Motiven, vielmehr in der Formalisierung selbst hat man aber die eigentlich produktive Aggression zu suchen, das Gift des Sinnentzugs. In Fabres Theater verstellt totale Ordnung hartnäckig jede Bedeutung. Zwar gibt es Zeichen, Namen, Verweise, Anspielungen (es gibt sie sogar in verwirrender Fülle), doch wollen sie sich nicht zu irgendeinem faßbarem Sinn zusammenfügen. Indem alles sich auf System und Struktur konzentriert, stellt das Theater sich in seinen absurd konkreten Einzelelementen aus, gibt keinen Blick frei auf eine hinter der Szene liegende organische Bedeutung.

In einer Untersuchung von 'Die Macht der theaterlichen Torheiten' hat Renate Lorenz in Anlehnung an Theo van Doesburgs Begriff 'konkrete Malerei' sehr zu Recht für Fabre den Begriff 'konkretes Theater' vorgeschlagen. Wie van Doesburg und später Kandinsky den Begriff 'konkrete Malerei' oder 'konkrete Kunst' gegenüber dem geläufigen Terminus 'abstrakte Kunst' bevorzugten, weil er statt des negativen Bezugs auf Gegenständlichkeit positiv die unmittelbare Konkretheit der malerischen Farbe, Linie und Fläche an sich betont, so kann man die nicht-abbildhaft, sondern formal strukturierte Arbeit Fabres als 'konkretes Theater' auffassen. Wahrnehmung dieses Theaters, der üblichen Krücken des Sinnverstehens beraubt, scheitert und wird gezwungen, sich auf eine schwierige - nämlich zugleich formale und sinnlich genaue - Sehweise einzulassen, die freilich, was das Sinnverstehen angeht, eine leichtere, sogar leichtsinnigere Haltung ermöglichen könnte, wäre da nicht die provokante Kälte der Geometrie hier und der unbefriedigte Heißhunger nach Sinn beim Betrachter dort. Beides wird bei Fabre überscharf bewußt und vor allem als Dialektik von Form und Aggression erfahren. Fabres ästhetische Formalisierung ist ein Spiegel, in dem der tatsächlich leere Formalismus der Alltagswahrnehmung sich erkennt - oder doch erkennen könnte. Nicht der Inhalt, die Formalisierung selbst quält. Ermüdende Repetition, Leere, reine Mathematik der Bühnenvorgänge, die uns eben jene Symmetrie aufzwingt, vor der wir uns dunkel ängstigen, weil sie nichts geringeres als die Drohung des Nichts mit sich führt. Die Schönheit wird leer, statt zu besänftigen. Der Taumel wird starr, so wild er sich gebärdet. Wo immer wir nach einer erfrischenden Droge greifen, trinken wir zugleich ein Gift. Die süßen Verlockungen, sweet temptations, erweisen sich als Köder, die statt der Lust uns ihren Entzug fühlbar machen und so eine sonderbare Beklemmung verursachen, die wohl jeder schon vor Fabres Szenen verspürt hat. Und so könnten wir die ganze Skala der Fabreschen Mittel durchdenken, immer wieder stießen wir auf jenes Drogengift, das aggressiv zu unterscheiden verbietet zwischen Fiktion und Realem, Angebot und Entzug, Bedeutung und sinnleerer Maschinerie.

Ist es eine heilsame, heilende Aggression oder nicht? Ist dieser eigentümliche Apparat nur eine Folterschrift oder eine produktive Maschine? Spiegelt die Bühne nur etwas vor, selbst leer? Wäre wenigstens diese Spiegelung oder diese Leere heilsam? Oder doch 'nur' eine gefährliche und trügerische Droge? Verbirgt die absolute Form absolute Bedeutungs-Leere, hält uns zum Narren? Oder schafft sie einen leeren Raum, frei von Bedeutung, damit wir darin anders und anderes zu sehen, zu denken und nachzudenken beginnen können? Mit dieser Frage hätte ich am Ende doch wieder eine Unterscheidung zwischen Gift und Medizin, zwischen Wut und Form angepeilt, während Fabre manifestiert, daß mit solchen Alternativen das Theater des Denkens wie das von Fabre allenfalls beginnen kann, nicht aber schließen.

Dieser Text ist die verkürzte Fassung einer Lesung von Hans-Thies Lehmann im Rahmen einer Vortragsreihe über Jan Fabre (Kaaitheater, Dezember 1992/ Theater Am Turm, Februar 1993).