Theater als Treffpunkt der Künste


Ein Gespräch mit Robert Lepage (Heft 5&6)

Bisher hat Ihre Theaterarbeit meistens mit einer Dramaturgie begonnen, wobei die Schauspieler gemeinsam mit Ihnen Texte für sich selbst schreiben, für ihren Körper, und Sie haben auch bei traditionellen Bühnentexten Regie geführt. Wenn wir zu den Anfängen zurückkehren, zu "The Dragon's Trilogy", finden Sie, daß Ihr Stil, einen Text zusammen mit den Schauspielern zu erarbeiten, sich durch Ihre Erfahrungen ändert?

Ich denke, daß er sich grundlegend ändern wird, weil ich glaube das ist ein Bedürfnis, nicht nur für mich als Regisseur, aber ich kenne andere amerikanische Regisseure, die ihre eigenen Sachen zu schreiben pflegten und die im Kollektiv arbeiteten, und die sich jetzt Zeit nehmen, Shakespeare zu machen, die Griechen zu machen, zu den Tragödien zurückzugehen, Racine zu bringen und alle diese Sachen. Ich glaube, daß es diesen Wunsch gibt, etwas über Dramaturgie zu wissen, von der Vergangenheit zu lernen. Das Problem in Nordamerika - hauptsächlich in Ländern wie Kanada und Quebec liegt darin, daß der Theaterberuf oder die Theatertradition nicht sehr alt sind, nur sechzig bis fünfundsechzig Jahre alt; das nordamerikanische Theater ist besonders besessen vom Psychodrama, dem naturalistischen Psychodrama des zwanzigsten Jahrhunderts, und besonders besessen davon, auf der Bühne filmische Ideen und filmische Themen zu reproduzieren; so gibt es keine Verbindung mit der Mythologie, es gibt keine Verbindung zu den großen Themen, zu den großartigen Weisen, Geschichten zu erzählen. Das ist sehr merkwürdig, weil ich letztes Jahr ein Filmskript geschrieben habe, und dafür eine Menge Bücher darüber lesen mußte, wie man ein vernünftiges Drehbuch schreibt, und ich war verblüfft, wie die Filmwelt die Dramaturgie des Theaters weitergeführt hat, wie gute Drehbücher in fünf Akte unterteilt werden, und man konnte wirklich fühlen, wie die Filmwelt die Tradition des dramatischen Aufbaus bei Shakespeare und den Griechen und so weiter gelernt oder fortgesetzt zu haben scheint. Aber ich glaube, daß im Theater, im nordamerikanischen Theater, die Dramatik und die dramatischem Strukturen vom Fernsehen ... vom Fernsehspiel geprägt worden sind. Folglich ist es für viele, vor allem nordamerikamische Regisseure wichtig, sich mit Shakespeare, den Griechen und all diesen Dingen zu befassen, weil wir völlig von der Mythologie, vom Ursprung des Theaters, losgelöst sind. Ich nehme an, in der gleichen Weise, wie ihr in Europa vielleicht genug davon habt oder vielleicht darmit belastet seid.


Im Laufe der letzten zwanzig Jahre gab es eine Art von neuavantgardistischer Geschichte des Theaters, das wichtigste Merkmal dieses Theaters bestand darin, daß der Text entweder beseitigt wurde oder nur einen Teil aller Elemente darstellte, die zusammengeschmolzen wurden, und wenn wir also über das Autorentheater sprachen, bedeutete dies, daß jeder im Augenblick des Spielens, wenn er handelt, seinen eigenen Text hat und in gewisser Weise ein theatralischer Körper ist.

Ich glaube, daß es für den Inhalt eines Stücks wichtig ist, daß die Schauspieler das Stück schreiben, daß sie es aus ihrer eigenen Realität, aus ihrer eigenen Mythologie, aus ihrem eigenen Innersten heraus schreiben. Natürlich ist es immer nötig, daß wir beim Ausfeilen des Textes jemanden bitten, herzukommen und vielleicht den Text umzuschreiben, denn aus stilistischen Gründen, oder nur aus dramaturgischen Gründen, braucht man ja eine gewisse sprachliche Einheit. Wenn wir zum Beispiel Französisch schreiben, dann muß das Französisch das gleiche im ganzen Stück sein. Deshalb ist es notwendig, auf dieser Ebene immer noch eine gewisse Disziplin beizubehalten. Aber die Geschichten und die Charaktere kommen aus den Körpern und aus der Seele der Menschen, die sie schaffen und ich glaube, es ist eine interessante Art und Weise, das jetzt sofort zu tun. Wir gehen oft ins traditionelle Theater, und wir denken oft, daß gewisse Rollen sehr, sehr flach sind, daß ihnen die Tiefe fehlt, weil nur ein Aspekt der Möglichkeiten eines Charakters gezeigt wird. Wenn bei dieser Art von Theater jemand, der einen Teil geschrieben hat, nicht mit Tournee kann, z.B. mit "Polygraph" oder mit der "The Dragon's Trilogy", und durch jemand anders ersetzt werden muß, wird der andere aufgefordert, diesen Teil fast ganz umzuschreiben. Natürlich wird er davon ausgehen, was der andere Schauspieler getan hat, aber er fügt der Rolle eine neue Schicht hinzu; und je mehr Schauspieler an einem Teil schreiben, umso vielschichtiger wird der Charakter und umso komplexer und interessanter. In meiner Arbeit mit dem Theatre Repère haben wir natürlich noch nicht viel Gelegenheit gehabt, dies zu tun; wir glauben zwar daran, aber die Theatergesellschaft ist sehr jung und wir haben noch keine lange Geschichte. Aber es würde mich interessieren, wie jede Rolle, jede Geschichte immer komplexer würde, wenn wir auf diese Weise weiterarbeiten würden, und ich glaube, daß es für Stücke wie "Polygraph" wichtig ist. Es wurde vor vielleicht fünf Jahren geschrieben, und nicht nur die verschiedenen Schauspieler, die es spielten, wechselten, sondern auch die verschiedenen Orte, am denen sie spielten, sowie die verschiedenen gesellschaftlichen Anlässe, die stattfanden. Was ich an dem, was die Wooster Group oder Reza Abdoh heute machen, sehr bewundere - und sie sind streng nordamerikanisch in dem was sie tun - ist die Tatsache, daß sie über Dinge sprechen, die zur gleichen Zeit geschehen, daß sie diese ergreifend darstellen, und daß sie ihrem Innersten erlauben, sich zu ändern, dem Geschriebenen, der dramatischen Struktur und dem dramatischen Schreiben erlauben, sich mit den von ihnen beschriebenen Ereignissen mitzuentwickeln. Ich meine damit, daß Reza Abdoh ein Stück über die Jeffrey Dahmer-Morde macht und am Prozeßabend findet auch die Premiere statt. Ich glaube, daß dies nun sehr, sehr nordamerikanisch ist, und ich konnte spüren, wie die im Werden begriffene Arbeit, der Stil der Wooster Group ebenfalls vom gleichen zehrt, nämlich daß wir in Nordamerika aufgewachsen sind, in einer Gesellschaft, in der die Menschen dann über die Dinge reden, wenn sie geschehen, und daß sich die Art und Weise, wie die Geschichten gedreht werden, mit den Ereignissen und mit den Leuten entwickelt, die sie schreiben.


Als Sie mit dem Theater Repère arbeiteten, gingen Sie immer von einer Idee, von Quellenmaterial, "Repère" ("Zeichen") genannt, aus und schufen Ihre eigene Geschichte. Sie planen momentan ein japanisches Projekt über Hiroshima?

Ich glaube, als wir die "The Dragon's Trilogy" machten, schrieben wir in einer Art und Weise, bei der wir stark von dem beeinflußt waren, was sich bei der neuen Tanzthematik, beim Film und in der Musik abspielte. Wir wurden von allem beeinflußt, außer vom Theater, und ich glaube, daß so ein neuer Bühnenstil geschaffen wurde, eine neue Art von Theater, und ich glaube, daß die Art und Weise, wie wir es schrieben, stark von dem befruchtet wurde, was in anderen Kunstbereichen vor sich ging, auch wenn wir das vergessen hatten, weil wir mit diesem Stück viel auf Tournee waren. Danach begannen wir, neue Projekte zu entwickeln, und es wurden uns Stücke von anderen Leuten angeboten und so weiter, und wir vergaßen das, nämlich Stücke zu machen über das, was wir gerade jetzt in anderen Arbeitsbereichen tun, und ich spüre, daß ich gerade jetzt am einem Punkt angelangt bin, am dem ich nicht mehr nur mit Theaterleuten arbeiten will. Ich glaube, daß in der Oper neue, aufregende Dinge geschehen, es geschehen neue Dinge beim Tanz, bei der Videokunst und auch beim Film, und ich habe den Eindruck, daß ich den Kontakt damit verloren habe, weil ich plötzlich ein beliebter Theaterregisseur geworden bin. Wissen Sie, ich bewege mich fort von dem, was mein ursprüngliches Interesse war: Zu verstehen versuchen, wie das Theater sich gleichzeitig entwickelt wie Tanz, Malerei und andere Kunstformen. Weil Theater immer zuletzt kommt, in dem Sinne, daß Theater der Treffpunkt aller anderen Kunstformen ist, und daß wir als Theaterleute auf diese Rolle, nämlich das einzufangen, was in jedem Kunstbereich geschieht, eingehen sollten, nicht nur, indem wir spielen, sondern auch indem wir schreiben, wie die Menschen schreiben, wie sie die Musik, die Architektur, wie sie alles schreiben. In diesem neuen Projekt über Hiroshima versuche ich, auf diese Idee zurückzugreifen. Anstatt nur Schauspieler mit einzubeziehen, versuche ich Videokünstler, Tänzer und Schlangenmenschen und so weiter mit einzubeziehen. Selbstverständlich kann ich es mir nicht leisten, sehr viele Leute m das Projekt aufzunehmen, aber ich kann es mir wenigstens leisten, je einen Vertreter aller dieser verschiedenen Arbeitsbereiche zu haben und versuchen, unsere Zeit zu verstehen, und versuchen, warum Kunst das ist, was sie gerade heute ist, und schauen, wie wir die Bühnenform und die Dramaturgie der Bühnendramatik reformieren können.


Die Erfahrung mit Shakespeare, "Three Shakespeare", das Sie gemacht haben, "A Midsummer Night's Dream" und auch "Rapid Eye Movement", wird vorläufig der letzte Versuch sein, im Repertoiretheater zu arbeiten?

Ja, bestimmt, es ist wirklich der Endpunkt eines zweijährigen Aufführungszyklus dieser Stücke. Für mein Verständnis war es sehr, sehr nützlich. Natürlich ist es nichts Neues, man geht zurück zu Shakespeare, wir kehren ebenfalls zu ihm zurück, weil er umfassend ist. Ich glaube, daß ich in diesen letzten zwei Jahren sehr privilegiert war, weil ich viele Universitäten besuchen mußte, viele "Macbeths" und viele "Midsummer Night's Dreams" machen mußte, so bekommt man wenigstens viele Gelegenheiten, um diese verschiedenen Stücke verstehen zu versuchen, und ich glaube, daß ich mich nun bereit fühle, wiederum persönlichere Stoffe anzugehen. Was am Shakespeare derart fasziniert, ist die Tatsache, daß man über viel Freiheit verfügt, nicht nur als Regisseur, sondern auch als Schauspieler und Leser hat man eine große Interpretationsfreiheit. Ich glaube, beim heutigen Theater fehlt es häufig daran, daß wir uns bei einer von uns gemachten Produktion, bei einem Konzept, das wir ausführen oder auch nicht, stets eingesperrt fühlen; wir schreiben oder produzieren selten Sachen, die uns die Freiheit der Einbildungskraft lassen.


Und die Arbeit mit den Schauspielern am Münchner Residenztheater?

Ich merke, daß es beim Theater eine sehr unterschiedliche Art von Schauspielern gibt, natürlich braucht es auf der Welt alle Arten von Leuten, aber ich konnte spüren, nicht nur in diesem deutschen Zusammenhang, sondern auch am National Theatre in London, daß es eine Kategorie von Theaterkünstlern gibt, die geführt werden wollen, die als Schauspieler nur als Leute gebraucht werden wollen, deren Fach es ist, gute, sehr gute Schauspieler zu sein. Für mich ist das sehr sonderbar, weil ich mit meiner Vorstellung Schauspieler immer als Schriftsteller sehe, vielleicht, weil ich geneigt bin, dem Schauspieler viel mehr Verantwortung und Freiheit zu geben, als er zu haben glaubt. Deshalb ist es für mich eine sehr befriedigende Erfahrung, so zu arbeiten, und es ist ganz neu für mich; aber zugleich bin ich nicht sicher, ob ich glücklich sein könnte, wenn ich mein Leben lang so etwas machen würde, weil ich es mag, von den Schauspielern in Frage gestellt und provoziert zu werden. Ich mag es, von den Schauspielern herausgefordert zu werden und finde es nicht unbedingt gut, wenn sie mir dienen. Folglich ist dies nicht unbedingt der richtige Platz für mich. Ich bin glücklich, es getan zu haben, und es war für mich eine große Bereicherung, aber ich konnte spüren, daß ich nicht unbedingt so weiterarbeiten möchte.


Haben Sie vor, in diesem neuen Stuck, "Hiroshima", selbst mitzuspielen?

Ja, ich will darin ganz bestimmt auftreten. Ich glaube, daß dies ebenfalls zu den Dingen gehört, die ich in den letzten paar Jahren sehr vermißt habe. Sicher mag ich "The Dragon's Trilogy" oder "Tectonic Plates", die Inszenierung und die Regie waren interessant, weil der Regisseur mitten im der Aufführung stand, und weil ich nicht tat, was ich heute tue, nämlich hinten im Raum sitzen und meine Arbeit betrachten wie ein gemaltes Bild, und ein Maler sein und die Dinge gut aussehen lassen. Ich glaube, das ist schrecklich, ich glaube, es ist besser, ein Teil der Arbeit zu sein, und was am der Arbeit an "The Dragon's Trilogy" und an "Tectonic Plates" sicher angenehm war, war die Tatsache, daß ich mich mitten im Raum befand; es gab zwei Stücke, es ging um Stücke auf der Vorderbühne, sie waren völlig offen, da gab es Leute auf jeder Seite des Raumes und so fort. Man schaut nie richtig auf sein Werk, es ist nicht so narzißtisch, es kommt mehr von innen heraus, es ist Regie von innen heraus, im wörtlichen Sinne, aber ebenso im metaphorischen Sinne, und man begreift die Dinge aus der Mitte heraus, und ich glaube, daß mir das bei meiner heutigen Arbeit als Regisseur fehlt. Ich begreife die Dinge nur von außen her, und wenn ich mitten in der Handlung stünde, würde ich von innen heraus verstehen und gäbe ich bessere Richtlinien.


Was ist die Idee oder der Ausgangspunkt für "Hiroshima"? Warum haben Sie dieses Konzept aufgebaut? Was sind die "repères" für "Hiroshima"?

Ich glaube, ich war immer vom Osten und vom Orientalischen und Östlichen fasziniert, aber ebenfalls von der Philosophie und dem japanischen Theater ... und es hatte einen sehr großen Einfluß auf meine Arbeit. Aber wenn man etwas wie "The Dragon's Trilogy" macht, stellt man viele Fragen über die Begegnung zwischen Ost und West, aber man gibt nicht unbedingt Antworten, und ich habe das Gefühl, daß ich jetzt einige dieser Fragen beantworten muß. Als ich letztes Jahr zum ersten Mal in meinem Leben nach Japan ging, war ich sehr beeindruckt. Ich schaute mir zwei Wochen lang täglich zwei Kabuki-Stücke an, eines am Nachmittag, eines am Abend. Natürlich war ich zuvor bereits außergewöhnlich gut über japanisches Theater unterrichtet. Ich wußte viel darüber und es war eine meiner Spezialitäten (ein Bereich, über den ich wirklich viel wußte), aber ich hatte es nie so intensiv erlebt, und was wirklich großartig war, waren die Besuche verschiedener japanischer Städte. Wir sehen Japan immer als eine große Nation, aber in Wirklichkeit, wie klein eine Insel auch sein mag, es gibt dort Regionen, es gibt unterschiedliche Einstellungen, es gibt unterschiedliche Besonderheiten, und so mußte ich überall in Japan hingehen und zuletzt kam ich nach Hiroshima. Selbstverständlich war ich bewegt, betroffen und schockiert, wie jedermann, der nach Hiroshima geht, aus all den gleichen Gründen, das ist ja nichts Neues, nichts außergewöhnliches. Das Interessante war, daß ich die Stadt mit einem Shakespeare-Kenner besuchte, mit einem Theatermenschen, der beim Fall der Bombe auf Hiroshima dabei war und der es gesehen hat, und der die ganze Geschichte von Hiroshima mitgemacht hat, wie es wiederaufgebaut wurde, und wie die Welt sich verändert und all das. Es war etwas ganz Besonderes, weil ich mit einem Theatermenschen zusammen war, der dies alles natürlich mit einem shakespearschen Blick und mit seinem Theaterwissen wahrnahm, und der mir die Idee gab, daraus etwas zu machen. Und er erzählte mir auch allerlei Geschichten und allerlei Dinge, und ich versuchte, einige Kurzgeschichten zu schreiben. Als ich von Hiroshima zurückkehrte, war ich stark daran interessiert, aus diesen japanischen Theatertechniken vielleicht mehr zu entwickeln das ist natürlich nichts Neues, viele Leute haben das bereits getan - aber ich glaube nicht, daß diese Leute in größerem Ausmaß die Techniken des "Bumaku" benutzt haben, das ist etwas, dessen sich die Leute nicht sehr bewußt sind, und ich bin davon sehr fasziniert. Ich beabsichtige, viel mehr mit Puppenspielkunst zu arbeiten und darauf zurückzugreifen, und zu schauen, wie die Beziehungen zwischen Schauspielern und Puppen, die wir in der westlichen Welt nicht haben und für die die östliche Welt eine Lösung gefunden zu haben scheint: für mich ist das für das Erzählen von Geschichten eine sehr faszinierende Sache.

Das Interview führte Brigitte Fürle am Telephon am 3. Juni 1993, Wien-München