So daß es in sich in Bewegung bleibt - Ein Gespräch mit Jan Ritsema (Heft 1)


Still the same old story,
Defend your territory,
From the others,
From your brothers,
All of whom I see,
Looking back at me,
When I`m looking in ehe eye of the world.
(Fragment of a Song form 'Streetnoise',
Julie Driscoll / Brian Auger, 1969)

JAN RITSEMA (Groningen, Niederlande, 1945)
arbeitete als Regisseur u.a. beim Werktheater ('U bent mijn moeder' - 'Du bist meine Mutter' -, 'Adio'), Maatschappij Discordia und der Toneelgroep Amsterdam, sowie bei der von ihm selbst gegründeten Gruppe 'Mug met de Gouden Tand.' Neben seiner Theaterarbeit ist er auch Herausgeber der 'International Theatre & Film Books' (Amsterdam). Seit einigen Jahren ist er künstlerisch mit dem Kaaitheater (Brüssel) und Felix Meritis (Amsterdam) verbunden. 1989 inszenierte er für das Kaaiheater die viel beachtete Vorstellung 'Wittgenstein Incorporated' auf Grundlage eines Textes von Peter Verburgt: ein Solo aus drei philosophischen Lektionen gespielt von Johan Leysen. 1990 brachte er mit denselben Mitarbeitern eine französische Version dieser Produktion heraus; eine deutsche wird gerade vorbereitet. 1991 inszenierte Jan Ritsema für Kaaitheater und Felix Meritis Eric Rohmers Text 'Le Trio en mi-bémol' mit Josse De Pauw, Lineke Rijxman stion und drei Musikern. Das hier abgedruckte Material wurde während eines Interviews, das in der Probenzeit zu Heiner Müllers 'Auftrag' (Premiere am 16. Januar 1992 in Brüssel) stattfand, gesammelt. Im Augenblick bereitet er eine Oper vor: 'Fausto Coppi', über das Leben des legendären italienischen Radrennfahrers. Die Musik komponiert Harry de Wit. Weltpremiere dieser Oper (Produktion: u.a. Szene Salzburg) ist in Salzburg im August 1992.

Über die Bedeutung von Erfahrung
Zu meinem Erstaunen haben die Veränderungen innerhalb unseres gesellschaftlichen Umfelds mein Leben und Werk bisher nicht sehr beeinflußt. Es fällt schwer, sich die Ereignisse wirklich vorzustellen: was bedeutet z.B. das Verschwinden des Eisernen Vorhangs? Diese Veränderungen in Osteuropa werden sich zweifellos auswirken; vermutlich werden sie uns das Gefühl größerer Weite vermitteln. Man kann das aber auch nicht eindeutig beschreiben. Sie hatten dort ein ziemlich verseuchtes System, und jetzt leiden sie schon wieder an einer Krankheit - der 'freien Marktwirtschaft'. Die Seuche des Raubs. Wenn du aber erst einmal eine Krankheit überwunden hast, dann hast du auch schon vergessen, daß du krank warst. Du stehst am nächsten Tag auf und weißt nichts mehr von den Schmerzen: das könnte dort auch eine Rolle spielen. Ich glaube, daß sich Bewußtseinsänderungen sehr langsam vollziehen und daß man hauptsächlich aus Erfahrungen lernen kann. So wie in den sechziger Jahren: der Unterschied, mitten im Krawall zu stehen oder ein Paar Straßen weiter zu laufen, wo alles ruhig war. In jedem Fall ist es weit weg. Sogar im Fall Jugoslawiens muß ich mir viel Mühe geben, um mir vorzustellen, daß es ganz in der Nähe ist, daß es sich nicht genausogut in Afrika oder Lateinamerika abspielen könnte. Ich erfahre davon weiter nichts als eine Reihe von Bildern im Fernsehen. Die eigentliche Erfahrung, die du machst, geht wohl eher von solchen Entwicklungen wie der des CNN aus: die physische Wahrnehmung, daß die Neuigkeiten der Welt näherrücken, wie oberflächlich auch immer. Was mich wirklich verändert hat, das waren einschneidende Erfahrungen; Veränderungen vollziehen sich nicht so sehr über Einsicht, Kenntnis, Stellungnahme und Willen. Das sind Veränderungen, mit denen du ständig herumlavierst: sie führen nicht zu grundsätzlichem Wandel, sondern werden nur kontrolliert. Ich glaube, daß sich das Individuums wohl nur durch mehr oder weniger traumatische Erfahrungen verändert: ein Kind gebären, krank sein, sterben. Man könnte annehmen, daß sich die Welt gleichermaßen durch solche einschneidenden Erfahrungen wandelt - die deutschen Konzentrationslager, der Mord an 6 Millionen Juden, 70 Jahre Kommunismus, die Atombombe: das sind Traumata, die die Welt nachdenklich machen. Aber darüber sollte man sich auch keine Illusionen machen.

Über das Bestehen eines Standpunkts
Ich denke viel darüber nach, welchen Standpunkt ich früher vertrat und worauf er basierte. Der wichtigste Einfluß, der für mich von so etwas wie dem Fall des Kommunismus ausgeht, besteht in größerer Zurückhaltung - ich bin bei der Wahl, beim Beziehen eines Standpunkts sehr zurückhaltend geworden. Darum interessieren mich Wittgenstein und Müller: dieses immer wieder aufs neue Denken, dieses ständige Infragestellen, dieses Analysieren der Dinge von allen Seiten, dieses Sich-immerzu-selbst-Widersprechen. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß du nicht gut nachgedacht hattest, daß du früher einen Standpunkt bezogen hast, ohne ihn ausreichend begründen zu können. Im Zusammenhang mit der kommunistischen Welt z.B. hätte man mehr wissen können, als man wissen wollte. Also will ich jetzt vor allem mehr wissen, denn ich will gern einen Standpunkt beziehen. Ich finde, daß Menschen Farbe bekennen sollten.

Über die Hoffnung
Ich will unbedingt weiter träumen. Aus der Hoffnung schöpfe ich Mut, Hoffnung ist denken zu können, daß es auch anders geht. Ich empfinde die alten Überzeugungen nicht als Jugendsünde, die der Vergangenheit angehört. Der Standpunkt, den wir im Westen früher bezüglich Osteuropa bezogen, war natürlich relativ luxuriös; für uns war das etwas anderes als für die Menschen, die dort lebten. Wir äußerten uns über etwas, das wir eigentlich nicht besonders gut kannten, von dem wir uns aber viel erhofften. Ich hoffe, daß eine kommunistische Enklave erhalten bleibt - vielleicht Kuba -; ich hoffe, daß die ostdeutschen Archive erhalten bleiben. Da der Widerstand gegen den Kapitalismus weggefallen ist, besteht vielleicht innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung die Chance zu einem differenzierteren Denken über das System. Das wäre erfreulich. Obwohl zur Zeit der Siegesrausch überwiegt, wächst doch die Anzahl derer, die den Grenzen dieses Systems ins Auge sehen.

Über die Intelligenzia
Ich habe keine hohe Meinung von dem was man mit Kunst erreichen kann. Wir sind einfach ein Teil des Systems, und wir existieren von der Gnade des Systems. Aber ohne Kunst würde es schlechter aussehen. Gegenwärtig ist die Intelligenzia an der Macht. Die Künste haben eine ausgesprochen reproduktive Funktion für die Intelligenzia: sie verfestigen deren Position, erhalten sie in manchen Fällen am Leben. Die 'Universität' ist an der Macht und hat dafür gesorgt, daß das Geld - die wirtschaftliche Macht - in ihre Richtung fließt. Die Akademiker, die Unternehmer, die Wissenschaftler: es ist eine Kultur der Schlauen, die genau wie zur Zeit der Adelsherrschaft nur in sehr eingeschränktem Maße bereit sind, Macht und Reichtum mit den unteren Gesellschaftsschichten zu teilen, die noch immer die gleiche Quasi-Toleranz und das gleiche Quasi-Pflichtgefühl gegenüber den weniger Gebildeten an den Tag legen.

Über den Raub
Künstler sind freigestellt. Wir fungieren als Schmieröl bei der Instandhaltung des bestehenden Systems. Ich denke dabei an eine Äußerung von Müller: "Solange Freiheit auf Gewalt gegründet ist, die Ausübung von Kunst auf Privilegien, werden die Kunstwerke die Tendenz haben, Gefängnisse zu sein, die Meisterwerke Komplizen der Macht." Handlanger der Macht, deren Freiheit auf Gewalt basiert. Denn wir (Handlanger des Kapitalismus) rauben alles, wir teilen nichts. Wer Geld hat, denkt nicht daran, es wegzugeben. Jeden Tag siehst du im Fernsehen Gründe, um dein Geld wegzugeben, aber du gehst lieber ins Kino oder kaufst eine Schachtel Zigaretten. Und die Genüsse sind nicht selten Ersatzmittel für die Einsamkeit, die du aus Scham über die eigene Schuld aufgebaut hast. Daher auch das Pascalzitat, das Müller zweimal in 'Jenseits der Nation' verwendet und das besagt, daß alle Katastrophen aus der Unmöglichkeit entstehen, mit sich selbst allein zu sein. Wie machst du das den Leuten klar, denn das ist der 'schwere Weg', während der Kapitalismus die Struktur des 'leichten Weges' ist. Hier herrscht das primitive Prinzip "Jeder für sich und Gott für alle': die Stärksten und die Schlauesten setzen sich durch. Immer noch, genau wie in dem Dschungel, den wir Natur nennen.

Über das 'auf der richtigen Seite' stehen
ich habe immer gesagt, daß ich mit meiner Arbeit 'auf der richtigen Seite' stehen und den Leuten, die auf der richtigen Seite standen, Mut machen wollte. Darum geht es, - darüberhinaus bist du nur auf Macht aus. 'Auf der richtigen Seite' bedeutet: bei denjenigen, die gegen jedwede Unterdrückung sind. Mit solchen Menschen will ich die 'Phasen des Zweifels' gemeinsam überbrücken. Das ist es, denke ich, was man miteinander tut.

Über die Regionalisierung
Mit dem Fall Osteuropa, habe ich gedacht, würden alle Ländergrenzen wegfallen, würden die Länder zu kleinen Einzelteilen werden, würde die Zukunft der Welt eher im Auseinanderfallen als in der Stabilisierung von Machtblöcken liegen. Die europäische Entwicklung finde ich nicht sehr erfreulich. Sie macht mir Angst. Ich bin ganz extrem für Regionalisierung: die Hoffnung, daß 'Menschen' das Sagen haben statt, wie bisher, Nationalitäten. Die Bundesrepublik hätte auseinanderfallen sollen. Das wäre erfreulich gewesen. Schopenhauer: "Die wahre Philosophie der Geschichte besteht in der Einsicht, daß man in dem ganzen endlosen Wirrwarr der Veränderungen doch immer wieder demselben gleichen und unveränderlichen Wesen gegenübersteht, das heute dasselbe bleibt wie gestern und zu jeder Zeit." Der Mensch bleibt, trotz aller Mängel, der Mensch. Welche Veränderung man auch anstrebt, es ist und bleibe der Mensch, der sie vornehmen muß.

Über die Angst voreinander
Auf dieser Welt verbraucht man ungeheuer viel Energie für die Angst vor dem Leben und die Angst voreinander. Wir sind Hosenscheißer; wir fliehen in alle Himmelsrichtungen, wenn wir einander begegnen. Diese Energie könnte man auch in die Schaffung einer differenzierteren Welt investieren, in all die Dinge, für die jetzt weder Zeit noch Geld vorhanden ist. Eine facettenreiche Welt mit phantastischen Möglichkeiten. Welche ungeheuren Mittel verschwendet man nicht an die Bedrohung, die man füreinander darstellt. Nicht nur an die nationale Bedrohung, sondern auch an die des alltäglichen Lebens. Der Motor des Bösen ist die Angst, die Suche nach einem Schutz des eigenen Ichs vor dem Rest der Welt. Einstmals existierten auf einigen Inseln Vogelarten, die keine Flügel mehr besaßen, weil sie keine mehr brauchten: sie hatten zu Lande keinen Gegner mehr und dadurch konnten sie ihre Flügel im Laufe der Jahrhunderte ablegen. So könnten auch wir damit aufhören, einander zu bedrohen. Zynischerweise behaupten die neuesten Evolutionstheorien, daß wir von den Vögeln abstammen. Was Lebensraum und Nahrung betrifft, könnten wir die Weit besser einrichten, könnten wir alles besser verteilen. Eigentlich ist genug für alle da, aber wie wollen es nicht verteilen, da wir Angst voreinander haben. Der Kapitalismus ist immer noch nichts anderes als eine primitive mittelalterliche Festung. Anscheinend haben wir nichts gelernt. Dabei wissen wir es besser. Aber wie können wir dieses Wissen zu einer Selbstverständlichkeit dieser Welt machen?

Über das Fehlen der Wurzeln
Wir leben in einer Make-up-Kultur. Man kann uns im Nu ummähen. Unsere Existenzbasis, die sogenannte Stärke des Kapitalismus, seine Infrastruktur, sein Kommunikationsnetz usw., läßt sich im Handumdrehen vernichten. Im Unterschied zu den Aboriginals haben wir keine 'Roots'. Wir gehören einer ernstlich kranken Art an: einem kleinen, schwachen, weichen, weißen Klub. In Wim Wenders Film "Until the End of the World" sieht man auch solche blassen Weissen zwischen den Aboriginals herumlaufen. Man schneide in unserer Zivilisation ein paar Elektrizitätsleitungen durch oder spritze Gift in die Wasserleitungen, und das Chaos beginnt. Das ist höchst einfach; die Hungrigen dieser Welt sind nur noch nicht dahintergekommen. Wir tun, als ob wir sehr stark wären, aber an vielen Stellen sind wir verletzlich wie der menschliche Körper selbst, wenn man in ihn hineinsticht. Wie eine Rakete sind wir von unseren Wurzeln aufgestiegen, unsere Bande mit der Geschichte werden mit der Zeit immer dünner.

Über das Flüchten
Früher war der Mensch gut für die Verteidigung gegen die sogenannten primitiven Ängste vor den Naturgewalten ausgerüstet. Heute stehen uns keine Waffen mehr gegen unsere Ängste zur Verfügung, abgesehen von unseren schlauen Tricks, vor ihnen zu fliehen. Wir fliehen, aber wir kämpfen nicht. 'Hamlet' ist das ideale Stück für Müller - der scheiternde Prinz. Ich glaube, mein Stück ist der 'Ödipus', allerdings nicht im Sinne der Freudschen Interpretation. Freud hat es ganz schlau benutzt, um uns eine Krankheit einzureden: daß wir unsere Väter ermorden und mit unseren Müttern ins Bett gehen wollen. Ein hübscher Schuldkomplex, der eine Menge Leute aufs Sofa getrieben hat. Aber 'Ödipus' ist vor allem die Tragödie des Fliehens - man steckt den Kopf in den Sand. Als Ödipus' Vater hört, daß ihn sein Sohn ermorden wird, muß dieser Sohn gleich weggeschafft werden; statt abzuwarten, bis er größer ist, und dann ein offenes Wort mit ihm zu reden, - etwa so: "Wie ist das, es scheint, du willst mich ermorden?'. Die Angst ist da, bevor die Furcht begründet ist. Ödipus läuft später selbst vor seinen Pflegeeltern weg und geht seinen eigenen Ängsten in die Falle. Wäre er zu den Pflegeeltern zurückgekehrt und hätte mit ihnen geredet, wäre er nicht in die verkehrte Richtung gegangen. Das hätte auch eine interessante Geschichte werden können.

Über das permanente Bewußtsein
Man sollte sich darin üben, permanent soviel wie möglich überblicken zu können. Sich ständig des Elends in der Welt bewußt zu sein, nicht versuchen, es zu vergessen, auch wenn man nicht direkt etwas dagegen unternimmt. Denken, sich bewußt zu sein, die Welt ständig mit sich zu tragen, denn die Welt ist unser Landgut geworden. Versuchen, in der Weit zu ein statt vor ihr zu fliehen. Ich verstehe, wie wichtig für jeden - der nicht Selbstmord begeht - die Selbsterhaltung ist. Man sollte ruhig nach größerer Sicherheit streben. Das ist alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber schlimmer ist es, wenn man versucht, den Rest der Welt zu vertuschen. Mit so einem permanenten Bewußtsein, auch des Erlebens (damit du nämlich auch noch etwas davon fühlst), würde die Welt ganz anders aussehen.

Über die Schadenfreude
In dieser Gesellschaft stehen die guten Menschen nicht im Rampenlicht. Wir feiern nicht die Entwicklungshelfer, sondern die Betrüger, die Finanzhyänen, die Spitzensportler: das ist unser Einzug der Gladiatoren. Das Ehepaar, das schon seit 1920 konsequent überallhin - auch von Amsterdam nach Brabant - mit dem Rad statt mit dem Auto fährt, das kennen wir nicht. Von den Leuten, die nicht auf der falschen Seite stehen, wird nicht gesprochen. Dem Kapitalismus nützt das ständige Kampfgeschrei; die Zeitungen heizen die Kampflust an. Das gefällt uns, da können wir ein bißchen von unserer Angst ablegen. Laut Müller ist die Schadenfreude häufig der Motor unseres Handelns. Geben wir ruhig zu, daß wir unsere eigenen Ängste in denen der anderen sublimieren. Ziemlich traurig, das alles. Man ist in einem Teufelskreis gefangen.

Über die Untergrundkunst
Die Kunst der Zukunft ist wahrscheinlich die Kunst, die in den Untergrund gehen wird: die Kunst, die wir nicht kennen, die uns nicht gefallen wird. Der ganze Reklamerummel, der in Amerika z.B. schon um das Werk von Koons (der übrigens denselben Agenten wie Prince hat) gemacht wird, schwappt vermutlich auch nach Europa herüber, aber ein anderer Teil der Künstler wird dabei absolut nicht mitmachen wollen. In dem Maße, wie dieser ganze Rummel durchschaubarer wird und wie sich die Kunst bewußt wird, daß sie auch selbst an dem leidet, was sie eigentlich bekämpfen will, wird die Neigung, in den Untergrund zu gehen, zunehmen. Dann bleibt einerseits eine An Massenkunst übrig - große Künstler, die von übernationalen Verbänden getragen und massenhaft konsumiert werden. - Denn: groß ist nur, wer vielen gefällt. - Andererseits wird ein Teil der Kunst darauf reagieren - eine Kunst, die nicht gekannt werden will, sondern gesucht werden muß. Diese wird neue Anforderungen an den gesamten Kunstbetrieb stellen, da sie nicht mehr in das Muster passen wird, nach dem Kunst jetzt organisiert und konsumiert wird. Sie wird auch finanziell, ökonomisch kaum noch von Belang ein.

Über die Faulheit
Wir haben hier eine lebendige kleine Welt kreiert, die die ganze Erde beherrschen wird, wenn nicht Faulheit infolge von Kultur oder Wärme usw. - ihr Einhalt gebietet. Wenn der sich ausbreitende Kapitalismus gegen faulere, weniger produktive und weniger konkurrenzorientierte Mauern stößt, könnte das durchaus sein Ende bedeuten. Der Kapitalismus verträgt keine Faulheit. Er geht am Ausruhen zugrunde. Er basiert auf Wachstum, und das Wachsen wird mit der Zeit immer schwieriger. Er basiert auf Diebstahl, auf der Bereicherung auf Kosten anderer. Wenn es nichts mehr zu rauben gibt, fällt er wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Er ist das System des Kettenbriefs; wer mit der Kette beginnt, wird furchtbar reich, während die letzten, wenn sie dumm genug waren, darauf hereinzufallen, ihren Einsatz verlieren. Das System des Betrugs, das, da es auf Luft gebaut ist, mit einem Nadelstich zum Schrumpfen gebracht werden kann. Unser Wohlstand ist Fiktion. Innerhalb eines Jahrzehnts kann die gesamte reiche Zivilisation des Westens völlig verarmt ein. Wenn wir untergehen sollten, so wird in 100 Jahren nichts mehr an uns erinnern. Alles ist so kurzlebig, so 'pseudo'. Eine Make-up-Kultur, eine Theaterkultur, eine fiktive Gesellschaftsform, deren wichtigstes Produkt Ideen sind; gewaltige Gedankenflüge hat unsere Kultur hervorgebracht. Wir haben davon profitiert, aber leider wurde alles zu schnell kommerzialisiert und politisiert. Dadurch haben die Ideen an Gewicht verloren, obwohl sie unserer Existenz eine erträgliche Schwere hätten verleihen können.

Über die Komplexität
Die Schlußfolgerung ist, daß alles komplizierter geworden ist. In den sechziger Jahren schien es noch einfach, gab es noch die Illusion der Hoffnung der Ideologie. Nun sind wir um eine Illusion reicher geworden. Das zwingt uns zu einer neuen Positionsbestimmung. Ich habe mir immer so wenig wie möglich weismachen wollen. Trotzdem passiert es einem. Immerzu. Die heutige Lage zwingt dich jedenfalls dazu, dir etwas weniger weiszumachen. Und ich bin gespannt, auf welchen Umwegen ich das dann doch wieder tun werde. Eigentlich ist unsere Generation eine privilegierte Generation. Wir sind mit den Mitteln versehen, auf all die Veränderungen zu reagieren, mit ihnen umzugehen. Wir sind die Generation, die Veränderungen wollte und die sie bekommen hat; nur: die Veränderungen sind mit uns durchgegangen - wie ein Wagen, den man selber zieht, aber der plötzlich einen Schubs kriegt und über einen hinwegrollt. Da bleibt dir nichts anderes übrig, als dich zu fragen: "Was mache ich denn nun? Renne ich weiter mit, oder soll ich die Karre anhalten und nachsehen, ob ich den Wagen umbauen kann?" Für mich braucht es nicht so schnell wieder eine neue Passion, eine neue Richtung, einen neuen Propheten zu geben. Ich neige nicht dazu, hinter solchen Dingen herzulaufen, Das wäre zu einfach. Aber in dieser Welt gibt es vieles, was verbesserungsbedürftig ist. Die große Frage ist nur, wie man dauerhafte Veränderungen zustandebringen kann, ohne daß man sich in die kurzsichtigen Umwälzungen eines Aufstandes stürzt und ohne daß man hinter der Fahne eines starken Mannes oder einer merken Frau herläuft. Das sind die bequemen Methoden, die sich immer wieder selbst aufheben. Es gäbe aber so viele Gründe, es besser zu machen. Nur: wie bündelst du sie? Wenn du dabei doch alle Unterschiede zwischen den Menschen respektieren willst? Wenn du dabei die Menschen selbst statt ihre Vertreter an die Macht bringen willst? Wie könntest du das organisieren, und zwar so, daß es in sich in Bewegung bleibt und andere Individuen respektiert? Das wäre schön, aber das werde ich nicht mehr erleben. Vorher müssen noch viele wirtschaftliche, nationalistische und religiöse Barrieren beiseite geräumt werden.

(Das Gespräch führte Marianne Van Kerkhoven in Brüssel am 10. Januar 1992)