Die Geburt des Klangs


Ein Gespräch mir Eric Sleichim

Vor einigen Jahren habe ich begonnen, auf meinem Instrument, dem Saxophon sehr konzentriert an der Geburt des Klangs zu arbeiten. Dies führte zu einer wahren Obsession für Stille. Man kann die Grenze zwischen Klang und Nicht-Klang mit der Kupplung eines Autos vergleichen: ohne Gas zu geben, laßt man die Kupplung langsam kommen; dann fühlt man, wenn sich der Wagen in Bewegung setzt. Wenn man es zu schnell macht, fangt er an zu stottern. Es ist ein Dialog zwischen Bewegung und Nicht-Bewegung. Mit Klang ist es genau so: man setzt sein Rohrblatt langsam unter Druck und an einem bestimmten Punkt beginnt es zu vibrieren; dann hat man Klang. Indem ich mich damit beschäftigte, wurde ich immer besessener von dem Moment der Stille, dem Moment des Nichts. Ich begann, beim Aufwachen ein Geräusch zu hören, jeden Morgen lauter. Sehr beunruhigt beschloß ich schließlich, zu einem Ohrenspezialisten zu gehen. Ich schien ein perfektes Gehör zu haben, auch für besonders hohe Frequenzen. "Wissen Sie, was Sie hören?" sagte der Mann damals, "Sie hören Ihr eigenes Blut fließen, Sie hören ihren eigenen Körper funktionieren." Das kann also passieren, wenn man sich in äußerstem Maße auf Stille konzentriert. Man richtet sein Gehör gleichsam mikroskopisch aus. So höre ich manchmal sehr hohe oder sehr entfernte Töne, aber wenn jemand in einem Café zu mir spricht, habe ich manchmal große Mühe, die Person zu verstehen. Ich bin es nicht mehr gewohnt, genau jene Töne zu selektieren. Es ist so, als ob du in einem Orchestergraben sitzt: alle Töne kommen mit gleicher Intensität auf dich zu; du erhältst ein Totalklangbild, eine Totalinformation.
 
Ich weiß nicht, ob es einen Bruch gibt zwischen Stille und Geräusch. In einem total geräuschisolierten Raum fühlt man nach einiger Zeit ein Gewicht auf sich lasten, so als ob die Decke sacken würde. Völlige Stille ist für uns gewöhnlich unerträglich, viel leicht weil wir Nicht-Stille gewohnt sind. Als Stadtmensch habe ich meine Bedenken gegen Stille. Ich habe meinen Arbeitsraum in einer alten Kaserne. Wenn ich dort hineingehe und die Tür hinter mir schließe, betrete ich symbolisch und akustisch eine andere Welt. Die explizite Stille des verlassenen Paradeplatzes wirkt auf alle Sinnesorgane: es ist der einzige Ort in Brüssel, an dem ich in den Himmel schaue, versuche, die Wolken und die Sterne zu erkennen. Licht hat mit Stille zu tun. In der Stadt sind alle Straßen erleuchtet; dann ist es merkwürdig, an einem Ort zu landen, wo die Pupille die Chance bekommt, sich zu öffnen. Das ist eigentlich visuelle Stille.
 
Menschen haben oh Angst vor Stille. Maeterlinck beschreibt so schön, wie Stillschweigen Menschen mit ihrer gegenseitigen Intimität (1) - ich wage beinah zu sagen, mit ihrem Geruch - konfrontiert.
 
Man kann ein Publikum auf die Stille hören lassen: schon das Geräusch des Atems durch ein Saxofon ist Musik. Je nachdem, wie flach oder tief man atmet, kann man mit diesem Klang eine ganze Thematik entwickeln. Erst nach einiger Zeit beginnt man aufmerksam dem zuzuhören, was bis dahin noch Stille bedeutete. Rockkonzerte sind die völlige Negation davon: das ist Power, das ist eine Sturzflut von Dezibel.
 
Ein Komponist, der Menschen auf Stille hören läßt, sollte schon gut wissen, was er erzählen will, sonst werden sie ihm nicht folgen. In meinen 'Non-Euclidian Solos' habe ich mit sehr leisen Klängen experimentiert; sie basieren auf dem totalen Verstopfen des Saxofons; man muß sich dann wirklich die Lungen aus dem Leib blasen, bevor ein Ton herauskommt. Eines Abends wurde ich feuerrot und bekam trotzdem nur ein ganz kleines Piepen heraus, die Menschen begannen zu lachen; und dann kam der Klang, von sehr weit...
 
In "Anamorphoses" für ein Saxofonquartett steckt beinah eine aggressive Form von Stille: man hat vier Musiker, die während etlicher Minuten mit durchgehender Atmung einen hohen Luftton produzieren. Nach einiger Zeit konzentriert sich der Zuhörer auf die kleinsten Klangschwankungen.

Man kann das mit dem Stück von John Cage vergleichen, in dem ein Pianist auftritt, sein Chronometer in Gang setzt und mehrere Minuten regungslos am Klavier sitzt: auch da werden die Anwesenden aufgefordert, der Stille zuzuhören, sich der Geräusche um sich herum bewußt zu werden. Je stiller es wird, desto mehr neue Dinge hört man, bis hin zu seinem eigenen Ohrensausen.
 
Eigentlich hat Stille mit der Verwaltung von Zeit zu tun. Bei einer kompakten Schreibweise, wie sie z.B. Webern eigen ist, ist Stille eine wesentliche Komponente. Was ich übrigens bei Webern so liebe, ist, daß er effektiv nur dreißig Sekunden benutzt, wenn er nur dreißig benötigt. Ich entscheide mich lieber für konzentriertes Material als für ausgewalzte oder romantische Variationen.
 
Ich gebrauche wohl Variationen, um Erinnerungen wach zu rufen. Sicher in "Anamorphoses"; dort habe ich ein System aufgebaut, das auf den "stillen Noten" der vier verstopften Saxofone basiert. Für jeden Spieler des Ouartetts gibt es bestimmte Harmonien, die stets zurückkehren; dies ergibt schließlich eine Reihe von neun verschiedenen Tönen. Drei niemals vorkommende Töne wurden zu 'verbotenen Tönen', die ich in einer versteckten Form gebrauchte. Das sind die Töne, die man niemals als solche hört in dem Musikstück. Dadurch, daß man sie durch "Stillen" (2) oder durch unkonventionelle Klänge ersetzt, entsteht rhythmisch und thematisch stets eine neue Erzählung in einer neuen Zeit. Das ist faszinierend.
 
In der Musiksprache steht Atmung für Stille - im Französischen nennt man eine Pause übrigens "soupir" (Seufzer). Musik ist bei nah eine Metapher für die physiologische - Notwendigkeit zu atmen: es gibt Rhythmus, bestimmt unsere Vorstellung von Zeit und garantiert ein organisches Gefüge. Wie wir Zeit innerhalb des Musikgeschehens erleben, ist übrigens ein sehr komplexes Thema. Es ist ein ständiges Verhandeln zwischen Ruhe und Unruhe, abhängig von Beziehungen zwischen Harmonie, Dynamik, Instrumentierung, Tempo und Thematik.
Indem sie die Wahrnehmung völlig auf Atmung konzentriert, verlegt die Musik ihre eigene Grenze in Richtung Stille.
 
Das Interview führte Marianne Van Kerkhoven in Brüssel am 31. März 1993.
(Der Text wunde mit Hilfe von Eric Sleichim redigiert)


(1) cfr. französischen Version.
 
(2) In "Anamorphoses" habe ich mit grammatikalischen Begriffen, u.a. der Apokope (dem Wegfallen eines Buchstabens am Ende eines Wortes) und der Elision (Ersetzung eines Vokals durch ein Apostroph), gearbeitet. Bei der Elision habe ich an die Stelle des Apostrophs eine "Stille" gesetzt. bei der Apokope fallen die "Stillen" oder Noten weg, wodurch man eine totale melodische Zusammenziehung erhält. Manchmal habe ich auch einfach die Note, die dem Apostroph vorangeht, verlängert.