Anatolij Vassiliev - Eine Einleitung


La vita deve obbedire a due necessità
che, per essere opposte tra loro, non le
consentono né di consistere
durevolmente né di muoversi sempre.
(Luigi Pirandello, Questa sera si recita a soggetto, 1937)

La vie doit obéir à deux nécessités, qui, en
s'opposant, ne lui permettent ni une permanence
durable, ni un mouvement perpituel.
(Luigi Pirandello, Ce soir, on improvise, 1937)


Anatolij Vassiliev lernte ich 1988 während des Berliner Gastspiels seines Ensembles kennen. Wir luden ihn ein, 1989 eines der Regieseminare des Künstlerhauses Bethanien zu leiten. Auf Wunsch der jungen deutschen Schauspieler und Regisseure ließen wir ein Jahr später ein weiteres Seminar folgen. Der Stoff waren Szenen und Figuren aus verschiedenen Romanen Dostojevskijs. So entstand der Wunsch und der Plan, diese Zusammenarbeit mit Vassiliev auf eine höhere Stufe der Annäherung an den russischen Dichter und seine szenische Umsetzung zu heben.

Anfang Januar 1992 reisten fünfzehn deutsche Seminaristen nach Moskau. Unter der strengen Führung Vassilievs begannen sie an seinem Theater der Schule der Dramatischen Kunst, Szenen und Figuren aus Dostojevskijs Roman "Der Idiot" zu proben, gemeinsam mit ihren russischen Kollegen und Kolleginnen. Diese Theaterarbeit wurde ab Mitte Januar im Künstlerhaus Bethanien in Berlin im gleichen strengen Rhythmus fortgesetzt. Ende des Monats und Anfang Februar fanden einige bejubelte Aufführungen auf der von Igor Popow eingerichteten Bühne statt.

Diese engere und zielgerichtete deutsch-russische Zusammenarbeit verlief krisenhaft. Die deutschen Theaterleute erlebten in Moskau so etwas wie einen Kulturschock, der diverse Ursachen hat. Auf einen kurzen Nenner gebracht, entstand die Krise aus der kulturellen Differenz zwischen Ost und West. Rußlands Uhren gehen anders. Auch für Vassiliev ist dieses immense Land zwischen Asien und unserem kleinen, zerstrittenen Kontinent nicht Europa. Und er spricht offen von der Krise nicht nur seines Landes seit der und durch die Perestroika (die es u.a. für okzidentale Errungenschaften bereit machen soll), vielmehr von der des europäischen Westens. Und damit steht er unter seinen Landsleuten keineswegs allein da. In seinem berühmten Vortrag an der Harvard-Universität hat etwa Alexander Solschenizyn den Beginn der Krise des Westens auf die Renaissance zurückgeführt. Womit er sich gleichsam schadlos hielt für traditionelle westliche Vorhaltungen an die russische Adresse, man habe dort niemals gelernt, die Tiefe kollektiver Emotionalität durch den individuellen Willen und die Ratio in Schach zu halten und auszubalancieren. Der Konflikt gründet in der Tat auf einem tiefen Gegensatz zwischen russischer Irrationalität und westlicher Rationalität; dem "russischen Riß", der die Seele dieses Volkes direkt mit Gott kommunizieren läßt, wie Viktor Jerefejev es ausgedrückt hat, einerseits, der okzidentalen Logik und dem Zweifel andererseits. Gegensätze, die zugleich die wechselseitige Anziehungskraft begründen.

Im Vorwort zu seinem Stück "Jacques et son Maître" (worin er an das Solschenizyn'sche Argument erinnert) begründet der tschechische Autor Milan Kundera seine Ablehnung Dostojevskijs und seine okzidentale Neigung für Diderot: "Ce qui m'irritait chez Dostoievski, c'était le 'climat' de ses livres, l‘univers où tout devient sentiment, autrement dit: oú le sentiment est élevé au rang de valeur et de verité. ... La sensibilité qui remplace la pensée rationnelle devient le fondement même du non-entendement et de l'intolérance..." (Paris 1981)

Das Nicht-Verstehen, die Intoleranz, die fehlende Bereitschaft, zuzuhören: sie standen als Vorwurf - von beiden Seiten - zwischen Vassiliev und der Mehrzahl seiner deutschen Schauspieler.

Für Vassiliev ist Dostojevskij mehr als ein Gegenstand unter anderen für seine Theaterarbeit. Das Genie des russischen Dichters, das seelische Drama seiner Figuren sich unmittelbar im Dialog ereignen zu lassen, ist der Methode des Regisseurs kongenial, dieses Innenleben im Spiel und durch die Improvisation seiner Schauspieler unmittelbar in Bühnenhandlung umzusetzen. Und der Heilslehre Dostojevskijs fühlt sich der Russe Vassiliev gewiß seelenverwandt. Die skeptischen deutschen Schauspieler standen oft hilflos daneben, wo der Geist des Dichters die wohltrainierten russischen Schauspieler gleichsam unsichtbar zu lenken schien.

Vassiliev steht fest auf dem Boden alter russischer Tradition. Dazu gehört auch sein autokratischer Führungsstil; die Strenge, die es nach seiner Aussage erlaubt, Freiheit ins Spiel zu bringen: Sein tiefer Pessimismus gegenüber unserer Epoche und vor allem gegenüber den Vorgängen in seinem Land veranlaßt ihn zur Suche einer Gemeinschaft "außerhalb der Gesellschaft", die sich mit absoluter Hingabe der Kunst widmet. Sein Lebensstil ist Arbeit; seine Arbeit ist die Suche einer Idee, einer Philosophie für das Leben. Theater als Tempel, wo - in der Verfolgung dieses Ziels - klösterliche Tugenden herrschen: Askese, Disziplin, Fleiß. Theater als Botschaft und Mission. 'Armes Theater'.

Man könnte leicht begründen, weshalb diese Qualitäten der westlichen Weltanschauung und dem herkömmlichen Selbstverständnis des Theaters im Westen fremd sind. Man mag diese anti-, besser vormoderne Haltung rundweg ablehnen. Aber man kann sich der Faszination Vassilievs kaum entziehen: dieser Traditionalist schafft eine vitale Alternative zur schalen Routine allen etablierten Theaters, zur bloß schönen und teuren Unterhaltung ebenso wie zu den ungenießbaren Kopfgeburten des westlichen Regietheaters. Vassilievs Praxis einer Solidargemeinschaft sollte nicht zuletzt dem desorientierten freien Theater Europas zu denken geben, welcher Weg wohl zur Exzellenz, zu herausragenden Leistungen führen kann. Auch wenn man nicht mit Vassiliev an die kulturelle Erneuerung aus dem Osten glaubt: seinem Beispiel für eine Erneuerung des Theaters muß unsere ganze Aufmerksamkeit gelten.

Michael Haerdter (Leiter Künstlerhaus Bethanien, Berlin)