Das Handwerk des Schauspielers


Ein Gespräch mit Ulrich Wildgruber (Heft 7)

Was ist eigentlich das Handwerk eines Schauspielers?

Zur Schauspielerei gehört sicherlich, daß man einigermaßen spricht keinen S-Fehler hat (was mich gar nicht stören würde), überhaupt kann man viele Techniken erlernen. Es gehört aber auch eine Handwerklichkeit des Gefühles dazu, und daß man weiß, wie man die Dinge ins Komische verwandeln kann. Eine Art schöpferische Phantasie, die hilft, eine Situation ins Spielerische zu übersetzen. Das ist schwer, Wenn ich einen Text in eine Performance verwandeln will, muß ich gewisse Erfindungen machen. Mir scheint, diese Erfindungen waren kräftiger zu einer Zeit, als man das Komödiantentum mehr pflegte. Das Komödiantische wird heute verachte. Mit der Vertreibung des Kaspars, des Erfinden von Situationen, aus dem Theater, den Clowns der Commedia dell'Arte u.s.w. scheint sich der Humor überhaupt von der Bühne verabschiedet zu haben. Dann wird es bedenklich: mit diesen Figuren verschwindet das Spielerische, der homo ludens aus dem Theater.
Wichtig erscheint mir alkmal, daß sich der Schauspieler auf den Proben einigermaßen vergnüglich bereit hält Dinge und Situationen zu erfinden. Wie setzt man sich? Was macht man mit einem Stuhl Wie benutzt man Requisiten Die Kunst der schnellen Verwandlungen, das sollte ein Handwerk des Schauspielers sein. Bei mir ist das Handwerk auch nicht sehrtoll ausgebildet, aber ich habe er immer sehr bewundert Charlie Chaplin, W.C. Fields, Buster Keaton, die ganze große Schule der Komiker, die Ihre Texte selbst schrieben, Ihre eigenen Filme enrwarfen und somit dem Schöpferischen ziemlich nahe waren. Sonst mag man bei Schauspielern oft das Gefühl haben, sie erhalten Befehle von rechts und links und folgen ihnen. Ich habe ein wenig Sorge, daß das Handwerk verschwindet, zu wenig Leute pflegen es momentan. Elnige Theaterberufe sind schon verschwunden. Früher gab es viele Leute die im Theater ihren Platz hatten und mit Liebe und Genauigkeit ihr Handwerk taten, Schuhe herstellten, schneiderten.
 

Die Ausübung dieses spielerischen Handwerks des Srhauspielers verlangt wohl ehe sehr offene Probensituation?

Regisseure wie Zadek verlangen, daß der Schauspieler viel Phantasie mitbringt und lassen lange Passagen erst einmal einfach spielen. Das ist sehr anstrengend und ganz wunderbar und reizvoll. Es war eine andere und glückliche Zeit, die siebziger Jahre. Man hatte verhältnismäßig lange Probenzeiten und konnte sich leisten, genau jene Schauspieler zu engagieren, die am ehesten der eigenen Phantasie entsprachen, es gab etwas gemeinsam zu entdecken. Dieses Grundinneresse ist selten geworden, und man Ist einfach gezwungen, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Jetzt hat man oft das Gefühl, daß die Schauspieler immer ängstlicher werden. Etwas von sich herzuzeigen, gehört aber auch zum Handwerk! Man muß versuchen, sich zu trainieren, so daß man vor den Augen des Regisseurs eine Situation ja aufschreiben oder malen kann.
 

Ist die Voraussetzung für ein gutes Theaterspiel ein Ensemble, oder zumindest ein Arbeitszusammenhang mit Personen, mit denen man schon öfter gearbeitet hat?

Eigentlich schon, aber das ist ziemlich utopisch. Die sogenannten großen Ensembles haben meiner Meinung nach immer nur zwei Jahre gehalten, dann stimmte es nicht mehr. Das Ensemble, das Brecht pflegte, oder von dem Stanislawski spricht - wie es dort dem einzelnen Schauspieler ergangen ist, darüber gibt es auch keine Berichte. Das wissen wir nicht. Damals war das Theater wichtig und leimte das Ensemble zusammen. Man konnte sich einbilden, daß das Theater auf gesellschaftliche Verkrüppelungen hinweisen könnte, ein wichtiger Markt sei, wo gesellschaftliche Probleme verhältnismäßig friedlich erörtert werden können.
 

Du hast die Städte, Ensembles, Regisseure häufig gewechselt, aber ist diese stetige Veränderung von Konzepten und Personen einer intensiven Arbeit nicht doch hinderlich?

Gesetzt den Fall, ein jeder Regisseur will seine Arbeit eigentlich gut machen. Davon müßte man ausgehen können. Das müßte man denken können. Dann lernt man sowohl von seinen Stärken wie Schwachen, auch von seinen Verkrampfungen. Man kann daran sein Handwerk üben und allmählich fügt es sich zusammen. Es brauche eine sehr lange Zeit bevor man das, was man denkt, auch veräußern kann. Bei mir hat er furchtbar lange gedauert. Ich hatte einen schrecklichen Krampf, nichts kam aus mir heraus. Durch irgendwelche Zufälle gings dann besser, aber toll ist es immer noch nicht.
 

Du favorisierst die Entstehung eines Theaterstückes aus der gemeinsamen Arbeit der Schauspieler und weniger ein Theater der starken Regiekonzeptionen?

Es gibt Regisseure mit starken Bildvorstellungen, die eine Form vorgeben, die unangetastet bleiben will. Dann versucht man diese Form gemeinsam vorzutragen, sie mit Leben zu füllen, so daß sie ein bißchen atmet. Mir gefällt es allerdings am besten, wenn es ganz lebendig ist und sich aus dem Spiel der Schauspieler ergibt Schauspieler beobachten Menschen und davon handelt das Theater letztendlich.
 

Wenn ein Stück immer wieder in den Spielplan genommen wird, und man auf einmal die gleiche Rolle drei Jahre lang spielt, ist das noch Freude?

Meiner Ansicht nach ist das Theater sehr kurzlebig, und nach einem Jahr hat sich mein Vergnügen an einer Vorstellung ausgelebt. Man ist mit seinen Gedanken schon ganz woanders. Ein Maler hingt ein fertiges Bild an die Wand und beginnt ein neues, es ist ein immerwährender Prozeß. So auch bei den Schauspielern, die versuchen, die Realitäten der Außenwelt ernstzunehmen und in ihr Spiel zu überführen. Spielt man eine Vorstellung drei Jahre, so heißt es zwar, daß sie ein Erfolg ist Aber das ist doch verhältnismäßig quälend, reine Disziplin, das verlangt Entsagung.
 

Ist es für den Schauspieler besonders schwierig älter zu werden?

Eine Stradivari wird im Laufe der Jahre vielleicht besser. Aber wenn Du einen Körper hast, der immer fetter wird, der keinen Salto schlagen kann, - viele Dinge kann ich gar nicht mehr ausdrücken, selbst wenn ich möchte. Hätte das gewußt, ich wäre ja nie Schauspieler geworden. Ich war eigentlich immer zu faul, Artistik zu lernen, habe somit meinen Beruf nie richtig ausgeführt. Nur wie sich meine Phantasie bewegt, das mag ich.
 

Kannst Du Dir ein Tbeater ohne Arbeitsteilung vorstellen, ein Theater, das die Regieposition aufhebt?

Der Schauspieler ist natürlich der viel ältere Beruf. Doch die Welt wird komplizierter und immer nervöser, ohne Arbeitsteilung geht es nicht mehr. So hat es plötzlich den Beruf des Regisseurs gegeben. Alles ist zeitlich begrenzt, das Leben sowieso und auch die Zeit Im Theater. Es sind immer nur Annäherungswerte, die man schafft, gleich ob man einen Text 6 Wochen, oder 1 Jahr probiert. Fertig wird man nie. Der Regisseur spart Zeit indem er auswählt, wie beim Schachspiel den idealen Zug sucht. Den idealen Zug gibt es allerdings nicht, da müßte man lange nachdenken, und das Leben wäre vorbei.
 

Wie lernst Du den Text?

Ich versuche, den Text so zu bimsen, daß ich nicht mehr daran denken muß. Allerdings kann ich manchmal besser proben, wenn ich den Text nicht genau weiß, da gibt es eine interessanten Zwischenzustand, indem man sich auf den Text zubewegt, da fällt mir manchmal etwas ein. Aber Ich kann kein Prinzip daraus machen
 

Rousseau sagt zum Talent des Schauspielers, es sei die Kunst sich zu verstellen und zum Beruf Schauspielers, es sei ein Gewerbe, sich für Geld selbst zur Schau zu stellen, und er fragt "jeden ehrlichen Mann" ob er nicht spüre, daß "dieser Handel mit sich selbst etwas Kriecherisches und Gemeines hat"?

Rousseau hat da nicht ganz unrecht. Natürlich versuche ich, Dinge zu imitieren, die nicht meine eigenen Erfindungen sind und mich möglicherweise von dem, was ich bin, oder sein könnte, meilenweit entferne. Ich finde das ganz lustig. Natürlich hat der Beruf etwas Kriecherisches. Man buhlt um Beifall. Er hat mit Kirmes und Schaubude zu tun, dideidideldidel und Hand aufhalten. Wenn das dann nicht mehr funktioniert, dann steht man allerdings ganz blöde da. Da ist es schon besser, man hat ,Zurück zur Natur" geschrieben. Aber die Welt ist kompliziert, viel anderes als sich zu verstellen, bleibt einem nicht, wenn man nicht schon ohne eigenes Zutun verstellt worden Ist.
 

Hast Du einen Zugang zu modernen Texten? Hast du jemals z.B. Heiner Müller Texte gespielt?

Nein. Aber der "Kasper" von Handke, der hatte für mich eine unglaubliche Schönheit. Die ersten 14 Tage habe ich nur mit Anstrengungen gelernt. Dann hat mir eine Dokumentation über den historischen Kasper Hauser sehr geholfen, mich beim Lernen weiterhin nur an das zu halten, was Handke geschrieben hat, und ruhig darauf zu warten, erst später zu verstehen, was er meint. Mit dem ,Kasper' habe ich auch meinen ersten Erfolg gehabt, mag das Stück deshalb auch über alle Maßen gern. Wie Thomas Bernhard in "Holzfällen" sagt: Wird denn ein Schauspieler auch einmal sagen, das sei meine Lieblingsrolle, wenn er keinen Erfolg damit hat? Nun letztendlich will man sich mitteilen, und wenn alle rausgehen, findet es nicht statt. Obwohl viel Arbeiten, die öffentlich gescheitert sind dennoch zu meinen Lieblingsarbeiten gehören.
 

Im flämischen und holländischen Theater wird manchmal die Trennung von Figur und Schauspieler zum Thema gemacht, und im Spiel der Abstand beschrieben, mit dem man sich auf eine Figur, einen Charakter zubewegt.

Das ergibt sich doch automatisch. Kein Mensch wird ernsthaft glauben, Ich sei König Lear, darüber muß man nicht viele Wörter verliere . Mein Lieblingssatz im Lear war allerdings: Sie können mir nichts tun, ich bin der König. Das war mein Schutz, hingesprochen zum Publikum. Aber wenn ich den ,Sommernachtstraum" an der Pekingoper inszenieren werde, besetze ich die Handwerker mit Holländern: ich bin Peter Quince. Ich bin gar nicht der Löwe! Das ist natürlich ganz holländisch.
 

Gibt es eine in den Jahren erworbene Methode, sich den Rollen zu nähern?

Nein, das ist jedesmal unterschiedlich. Gerade in letzter Zelt passiert es mir immer wieder, daß ich mit dem, was ich einst gemacht habe, nichts mehr anfangen kann. Im Theater habe ich dann zwar nicht so schnell jene Panik, die alles verstellt aber in den anderen Medien, wo man schnell zu Ergebnissen kommen muß, da kann Ich mich oft nicht retten, da bin ich ganz unbegabt. Ein paar Fertigkeiten, eigentlich Tricks, gibt es natürlich schon.
 

Welche zum Beispiel?

Vielleicht hat man in einer Rolle einen großen Schlußakkordgebracht, den man in eine andere übernehmen kann. Bei Shakespeare zum Beispiel ähneln sich viele Rollen, er umkreist stetig den Komplex Wahnsinn, und das ist auch für mich ein Thema, mit dem ich immer wieder in die Wälder gehe. Dinge, die mir auf diesen Wegen einfallen, kann ich dann verwenden. Eigentlich ist der Schauspieler ein harmloser Mensch, aber wenn er auf die Bühne geht, das ist doch ein Mysterium. Er behandelt die Dinge des Himmels und der Hölle, Engel und Dämonen. Das Theater ist ein merkwürdiger, fast ein kirchlicher Ort, an dem Tabuzonen, Tastbereiche berührt werden.
 

Erinnerst Du dich an eine Vorstellung, die Du mit großem Widerstand gespielt hast?

Oh ja, "Verlorene Zeit" von Hopkins, Regie Zadek. Ich war sehr eingestellt auf klassische Texte und habe keine Beziehung zu dieser Alltagssprache gefunden. Bei der Premiere haben die Leute dann sehr gelacht, wahrscheinlich deshalb, weil sich meine Verzweiflung komisch mitgeteilt hat. Zehnmal habe ich das Stück gespielt, dann wurde ich krank. Wieder genesen, sollte ich spielen und habe die Vorstellung total versaut, denn ich konnte den Text nicht erinnern und mußte ihn ablesen. Ich habe jetzt noch Alpträume.
 

Da warst Du schon fast ein Holländer: hier bin ich und dort ist der Text.

Ja, aber ein ganz schlechter.
 
Das Gespräch führte Gerhard Ahrens und Hannah Hurtzig in Berlin am 20. März 1994.