Prinzip Pferdewette
von Eva Behrendt

Theater heute - Jahrbuch 2004

Eines kalten Januarmorgens am Anfang dieses Jahres glaubte man seinen Augen nicht zu trauen: Matthias Lilienthal war über Nacht zum Cover-Boy geworden. Der Intendant des neuen Bühnenkombinats Hebbel am Ufer prangte auf dem Titel des Berliner Stadtmagazins "tip". Die Fäuste in roten Boxhandschuhen vor der massigen nackten Brust gereckt, die schütteren Locken gen Nacken geschwitzt und ein halb freches, halb scheues Grinsen im Gesicht, in das noch ein saftiges Veilchen geschminkt war. Es war fast das gleiche Motiv, mit dem auf Plakaten lädierte junge Boxer für Lilienthals neues Theater warben - nur angriffslustiger, munterer, unverschämter. Dabei zählt Matthias Lilienthal nicht zuletzt deshalb zu den bekannteren Berlinern, weil er sein Outfit penibel pflegt. Stets trägt der 44-Jährige seine Jeans und T-Shirts eine optimistische Spur zu eng, wobei die lässig auf Halbmast verrutschte Hose ein unverblümtes "Mir doch egal" signalisiert. Was in seiner Status-verachtenden Schmuddeligkeit schon zu Frank Castorfs Volksbühne passte und sich bei seiner "Theater der Welt"-Direktion 2002 auch im Rheinland durchgesetzt hat, wirkt 2004 im Norden Kreuzbergs erst recht glaubwürdig - und Lilienthal kennt keine Skrupel, wenn es darum geht, dieses persönliche Kapital für eine gute Sache in Positur zu bringen.

Das neue Hebbel am Ufer setzt sich aus drei zum Teil morsch gewordenen Erbstücken zusammen. Sie lassen sich treffenderweise mit der Aufforderung HAU abkürzen: das Hebbeltheater (HAU 1), das Theater am Halleschen Ufer (HAU 2) und das Theater am Ufer (HAU 3). Alle zusammen wurden von Lilienthal vor zehn Monaten in gewohnt barscher Weise eröffnet: "Das ist euer Theater. Macht was draus!" Gemeint war eine ziemlich unüberschaubare Menge freier Gruppen, Berliner Künstler und ausländischer Gastregisseure. Denn das HAU würde, auch wenn Lilienthal Carena Schlewitt (vormals FFT Düsseldorf und Podewil Berlin), Bettina Masuch (vormals Volksbühne Berlin) und Kirsten Hehmeyer (vormals Volksbühne und Schauspiel Hannover) in sein neues Leitungsteam geholt hatte, vor allem auf die Verantwortung und Initiative seiner Künstler angewiesen sein.

Die fast schon McKinseyhafte Idee, drei Problembühnen zu einem Bündel zu schnüren, geht auf die rot-rote Kulturverwaltung zurück. Die suchte zum einen den Nachfolger für Nele Hertling, die das altehrwürdige Hebbeltheater zum renommierten, aber nie renommierenden internationalen Gastspielhaus für einen verschworenen Kreis von Connaisseuren gemacht hatte. Zum anderen fehlte ein neues Konzept für zwei Bühnen, die gleich um die Ecke lagen: das Theater am Halleschen Ufer, in dem Peter Steins Schaubühne frühe Triumphe gefeiert hatte, sowie die kleine Hinterhofbühne Theater am Ufer, die der polnische Passionsregisseur Andrej Woron in den neunziger Jahren bespielt hatte. Zuletzt präsentierten beide Bühnen Projekte der freien Berliner Tanz- und Theaterszene, verloren Ende der Neunziger jedoch Künstler und Publikum an die neuen und aufstrebenden Spielstätten im Ostteil der Stadt - an das inzwischen schon wieder kleingesparte Kunsthaus Podewil, ans Dock 11, an den Volksbühnenableger Prater und vor allem an die Sophiensæle.

Im toten Winkel
Während Prenzlauer Berg und Mitte erblühten, verkümmerten in den letzten Jahren nicht nur die alten Bastionen der Westberliner Freien Szene. In Kreuzbergs ödem Norden, dem heutigen HAU-Revier, haben sich Wohnsilos und Zweckbauten längst in Reformstau und Rezession eingerichtet. Je mehr Geschäfte in den Straßen eingehen, desto besser gedeihen Balkonpflanzen und Satellitenschüsseln, von Hartz-IV-Kandidaten und Migranten mit Muße gepflegt. Und wo tagsüber das Willy-Brandt-Haus und die "Klönstube" der Arbeiterwohlfahrt zu den sozialen Brennpunkten zählen, verläuft auch das Nachtleben eher beschaulich.

Was sprach also dagegen, hier wenigstens das Hebbeltheater kräftig zu reformieren und ihm zwei weitere Spielstätten zuzuschlagen? Die neue Konstruktion soll nun den Auftrag von drei Theatern unter einer Leitung erfüllen: Sie präsentiert internationales Theater, Tanz und Musiktheater, sie zeigt Arbeiten der Freien Szene aus dem deutschsprachigen Raum und aus Berlin, und sie produziert auch noch selbst ein knappes Dutzend an Inszenierungen und Festivals - vorzugsweise mit jungen Nachwuchskünstlern. All das wie gehabt ohne Repertoire und Ensemble, allein mit dem Budget und spärlichen Personal des Hebbeltheaters: So arbeiten 24 fest angestellte Mitarbeiter (20 davon vom alten Hebbeltheater) mit jährlich 4,3 Mio Euro städtischer Subventionen für insgesamt 849 Zuschauerplätze; davon sind rund 1,2 Mio Euro freie Produktionsmittel.

Das ist für ein Stadttheater eher mickrig, für eine Spielstätte der Freien Szene jedoch gar nicht übel. Ein Strukturproblem hat das HAU dennoch: Seine künstlerische Autonomie ist viel stärker eingeschränkt, als freies Theater dem Begriff nach suggeriert. Der Löwenanteil der Inszenierungen und Festivals, die im HAU gezeigt werden, muss nämlich bereits finanziert sein (durch bewilligte Anträge bei Stiftungen, städtischer Projektförderung oder wilden Mischungen) - oder wird vom HAU mit überschaubareren Summen und mit Hilfe größerer Netzwerke koproduziert, in die sich auch immer mehr Ensembletheater einklinken. Ein derart knappes Budget bedeutet nicht nur, dass Hospitantinnen das Förderantragsschreiben von der Pike auf lernen. Es heißt auch, dass das HAU-Leitungsteam ein aus zahlreichen Töpfen bestücktes, hochkomplexes Finanzierungs-Mikado erstellt. Mit dem Risiko, dass das Geld schon im Mai verbraucht sein kann, und der Nebenwirkung, dass der Spielplan bis zu einem gewissen Grad nach dem Prinzip Pferdewette organisiert wird. Natürlich wissen Lilienthal und Team (meistens), wer den Gaul reitet. Doch Einfluss darauf, wie er's tut, hat das HAU oft nur begrenzt.

Vorschlusslorbeeren
Dabei hat das HAU durchaus auch Glück gehabt. Die Stadt oder zumindest viele der Theaterenthusiasten darin - die jungen Künstler und Studenten und auf jeden Fall auch die Kritiker - wollten nämlich ein neues Theater (und manche wollen es immer noch). Die einen wegen Matthias Lilienthal, der sich so konsequent als Anti-Selbstdarsteller inszeniert und der als Chefdramaturg in den neunziger Jahren dazu beigetragen hat, dass aus der Volksbühne damals nicht nur das angesagteste Theater der Stadt, sondern auch einer ihrer coolsten Orte wurde. Die anderen, weil sie im HAU eine besonders großzügig ausgestattete Alternative zum Stadttheater witterten - und weil nicht nur in Berlin die Orte für Performancekunst und -Experimente merklich schrumpfen. Die meisten aber wollten ein neues Theater, weil an den Berliner Bühnen derzeit tatsächlich eine Avantgarde im Sinne des Vordenkers und Trendsetters fehlt. Die Position des Protestes und der Gesellschaftskritik, die hier die Stadttheater üblicherweise einnehmen, war an den meisten Bühnen zur Pose erstarrt oder schlicht zu naiv geworden. Allein die Volksbühne schien mit dem Thema Religion noch nach einer neuen Erzählung zu suchen (und sich dabei auch fast schon wieder mit sich selbst zu langweilen). Ein Haus, das auf der Höhe der Zeit und seines Publikums - also weder darüber noch darunter - die richtigen Fragen formulierte, war jedoch vakant.

Quantität vor Qualität
So wünschten sich viele, Lilienthals Hebbel-Kiste möge mit einem ordentlichen Knall aufgehen. Man wollte endlich wieder eine Bühne haben, zu der es sich pilgern ließ, in deren Foyers es sich unter Jungen und Sichjungfühlenden gut und zeitgemäß abhängen ließ und die Aufführungen zeigte, die einen so inspirierten oder verwirrten, dass man danach noch mindestens drei Stunden drüber reden oder sich sofort total betrinken musste. Das HAU sollte, nein musste geradezu ein Erfolg werden. Deshalb schoss auch die abgebrühte hauptstädtische Theaterkritik dem neuen Hebbel am Ufer für ihre Verhältnisse euphorische Lorbeeren vor, widmete seinem künstlerischen Leiter zärtliche Portraits und interpretierte sensibel den überbordenden Auftaktspielplan. Lilienthals viel zitierte "hysterische Sehnsucht nach Realität" traf sich vorzüglich mit der Sehnsucht nach einem neuen Theater in Berlin.

Solche Erlösungsphantasien hat das HAU kurz und schmerzlos mit einer Sturzflut von Produktionen fortgespült. 335 Aufführungen von 120 Produktionen wurden in acht Monaten über drei Bühnen ausgeschüttet - nicht eingerechnet all die Klein- und Kleinstinszenierungen, die sich hinter Festivals, Kongressen und Themenwochenenden verbergen. Es war furchtbar viel los, und es gab maßlos viel zu sehen. Merken ließ sich nur wenig. Schon die Lektüre des falkplandicken Monatsspielplans stiftete oft mehr Verwirrung als Übersicht. Nicht nur unbedarfte Theaterfreunde und strebsame Rezensenten, auch die belastbarsten Mitarbeiter stießen an ihre Grenzen. "www.psychiatrie-erfahrene.de" hat offenbar eine überdosierte Zynikerin über die Tür der Damentoilette direkt neben dem HAU-Büro geschrieben, das sich kurz vor Spielzeitende in ein Lazarett verwandelt haben soll.

Natürlich steckt hinter der Überforderung System. Sie unterscheidet das HAU von der Konkurrenz, übertrumpft jeden Repertoirebetrieb mit dem Aufgebot eines ununterbrochenen Festivals. "Es ist mein Ehrgeiz, das HAU drei Jahre lang chaotisch zu halten", verkündete Lilienthal im "Tip". Der "Frankfurter Rundschau", die den Austausch von Qualität durch Quantität witterte, nahm er den Wind aus den Segeln, indem er schlitzohrig ergänzte: "Wenn man eine Vielzahl von Projekten betreibt, lastet auf dem einzelnen nicht so viel Druck." Mit anderen Worten: Wenn etwas in die Binsen geht, fällt es im Trubel weniger auf. Schade nur, dass das natürlich auch für besonders gelungene Arbeiten gilt, für die der Schutzraum dann schnell zum Bremsklotz wird: Dass die Presse bei durchschnittlich drei Aufführungen pro Inszenierung auf einzelne Nachwuchskünstler und -Gruppen reagiert, ist praktisch ausgeschlossen.

Das Soviel-wie-nur-möglich-Prinzip hatte Lilienthal schon bei "Theater der Welt" in den Städten Köln und Bonn, Duisburg und Düsseldorf walten lassen. Da ist der Theatererfinder strikter Pragmatiker: Was sich bewährt hat, bleibt drin und kommt mit. So etwa seine acht Jahre an Frank Castorfs Volksbühne erprobte "Erotisierung des Hauses" durch Theoriepartys und intellektuell gerahmte Clubnächte - immerhin leben in Berlin 130.000 Studenten und 45.000 Wissenschaftler, die auch ein bisschen Arbeit beim Spaß haben wollen. Oder die einleuchtende Methode, stets ein halbes Dutzend unbezahlter Hospitantinnen zu beschäftigen, von denen man nicht nur erfährt, was 20-Jährige gerade so lesen, denken, schick oder uncool finden, sondern die auch noch je dreißig Kommilitonen mit ins Theater schleppen. Nur Marthaler, den Lilienthal zusammenm mit Wilfried Schulz und Frank Baumbauer Ende der achtziger Jahre in Basel fürs Stadttheater entdeckte, und Schlingensief, der neuerdings Bayreuth rockt, scheinen für Kreuzberger Verhältnisse zu kostspielig zu sein.

Sozialutopische Spaziergänge
Auf Festivals und Themenkongresse ist das HAU schon deshalb angewiesen, weil es in der selbstverzapften Unübersichtlichkeit die Aufmerksamkeit wieder bündeln muss. "Polski Express" etwa klammerte ein paar Gastspiele aus dem Nachbarland, das Tanz-Festival "Context" stellte unter der Frage "Was ist Autorschaft?" einen winterlichen Antipoden zum renommierten, vom HAU fortgeführten "Tanz im August" zusammen. Das gewaltige Fringe-Spektakel "100° Berlin", für das das HAU gemeinsam mit den Sophiensælen rund hundert freien Berliner Gruppen und Einzelkünstlern Raum und Technik für eine einstündige Präsentation zur Verfügung stellte, diente fraglos auch als Casting für die veranstaltenden Spielstätten, die um die begabtesten Performer und Ideenspender konkurrieren.

Auch das Projekt "X Wohnungen", einer der Höhepunkte der ersten HAU-Spielzeit, ist ein Mitbringsel von Rhein und Ruhr. Genau wie vor zwei Jahren in Duisburg-Bruckhausen verwirklichte es jetzt in den Stadtteilen Kreuzberg und Lichtenberg Lilienthals Wunsch, das oft von Migranten geprägte Reale nicht nur zum Gegenstand, sondern zum Spielfeld des Theaters zu machen: Jede Wohnung ist eine Bühne. Das Projekt (Leitung: Arved Schulz, Sherin Langhoff und Sven Heier), das angenehm an eine Schnitzeljagd erinnert, führt die Zuschauer zu zweit durch Privatwohnungen, in denen deutsche und internationale Künstler, darunter besonders viele türkisch-deutsche Filmregisseure, die Wirklichkeit dezent manipulieren oder gleich komplett in Szene setzen. Der Schweizer Musiktheatermacher Ruedi Häusermann etwa ließ die frei- schaffende italienische Tänzerin Annalisa Derossi einfach mit Hilfe von Dia-Projektor und E-Piano ihr Curriculum Vitae erzählen - und den Besuchern am Ende ihre Visitenkarte in die Hand drücken: "Empfehlen Sie mich weiter." Filmregisseur Fatih Akin und Autor Feridun Zaimoglu inszenierten hingegen die Ressentiments ihres Publikums: Sie funktionierten ein leeres Apartment im zehnten Stock eines Lichtenberger Plattenbaus kurzerhand um zur islamistischen Zelle und ließen dort einen weiblichen Imam irritierende Hassreden gegen die westlichen "Schwanzträger" schwingen.

Unterwegs wurde der fremde Mit-Zuschauer zum Sparringpartner, der jede neue Geschichte interpretieren half. Wer zum Beispiel in der von Kindern durchtobten Schmuddel-WG, in die Bühnenbildnerin Hannah Groninger und Komponist Julian Klein eingegriffen hatten, war Schauspielschüler, wer Originalbewohner? Welche ansteckende Krankheit plagte den Punk, der dem Besucher keuchhustend ein Bier in die Hand gedrückt hatte? Was schließlich mochte die merkwürdige Sterbeurkunde aus dem Jahr 2034 bedeuten, die bei der trauerumflorten Familie des Feinkosthändlers Görgülü am Kottbusser Tor auf dem Couchtisch lag (Filmemacher Züli Aladag und Schwester Nevin)? Da trugen tatsächlich deutsche Soldaten einen Sarg ins Wohnzimmer und bahrten ihn vor der Balkontür auf, während ein Geistlicher (Adnan Maral) erklärte, dass Sohn Anton-Achmed für das deutsche Volk in den Bergen vor Peshavar gefallen war. Die Wege Allahs wie des Herrn sind unergründlich! Auf diesem sozialutopischen Spaziergang durch Kreuzberg aber gerieten die Grenzen zwischen Realität und Kunst auch ohne die beiden kräftig ins Schwingen.

Kreuzberger Ökonomie: die alternative Mehrzweckhalle
Die Kreuzberger Bohème ist ein Mythos - und quicklebendig. So, wie die Freelance-Proletarier und Lebenskünstler sich hier ihre Brötchen durch einen komplexen Jobcocktail verdienen, glaubt auch das HAU, sich mit einem komplexen Veranstaltungscocktail über Wasser halten zu müssen. Mitunter streicht dabei der Geist der Workshops, Projekte und nie versiegenden Diskussionsbereitschaft so ungebrochen durchs HAU, als sei '68 erst gestern gewesen. Getreu dem Motto "Netzwerke gehören auf die Bühne" fand das Filmfestival "Balkan Black Box" ebenso Unterschlupf wie der Zukunfts-Kongress "Heute. Morgen", den sich die Tageszeitung "taz" zum 25. Geburtstag schenkte. Als im vergangenen Winter die Berliner Studenten streikten, ließ sich das HAU bereitwillig von jungen Kulturwissenschaftlern "besetzen" und half bei der Ausrichtung eines 24-Stunden-Programms. Der Marxist Robert Kurz ("Schwarzbuch des Kapitalismus") durfte im HAU 2 mit der eloquenten Theorie-Linken Katja Diefenbach über den alten Imperialismus-Begriff und seine Anwendbarkeit auf die neuen Kriege diskutieren ("Imperialismus reloaded"), die Berliner Zapatisten begingen mit Cuba Libre einen Jahrestag, und die "Pläne zum Verlieren der Übersicht" widmeten sich ein Wochenende lang dem argentinischen Staatsbankrott und seinen Konsequenzen - aus theoretischer und künstlerischer Perspektive und irgendwie auch im Geiste der guten alten internationalen Solidarität. Will sich das HAU zu allem Überfluss auch noch als alternative Mehrzweckhalle profilieren?

Wenn damit Publikum gewonnen werden kann, bestimmt. Zum Spielzeitende kann Matthias Lilienthal gute Zahlen vorweisen: Die Platzauslastung lag bei 65 bis 70 Prozent, was für ein Programm, das auch den revolutionären Minderheiten Obdach bietet, ein echter Erfolg ist. Außerdem lassen sich mit 1,2 Millionen Euro nun mal keine 110 Gastspiele bezahlen, geschweige denn auch noch zehn Eigenproduktionen. Da kann die "Kreuzberger Ökonomie" schon unterstützen helfen. Allerdings verursacht eine solche Programmierung auch eine Menge Ärger in der Freien Szene, die selbst den Sound von Kreuzberg beherrscht: Künstler und Gruppen, die nicht am HAU auftreten dürfen, schimpfen über den "Monopolisten" Lilienthal, der aber keineswegs dazu verpflichtet ist, alle freien Berliner Gruppen auftreten zu lassen. Angesichts der Devise "Quantität vor Qualität" lassen sich Ausschlüsse jedoch schwer vermitteln. Andere fühlen sich im HAU-Dauerstress durchgewunken und ungenügend betreut.

Umgekehrt drohen von der Seite der Stadttheater Abwerbungen, schließlich gibt es da einfach mehr Geld. So interessiert sich Frank Castorf mit einem Mal für Johan Simons, der in dieser ersten HAU-Spielzeit als künftiger Stammgast mit Pasolinis Nazidrama "Fall der Götter" und Peter Verhelsts Shakespeare-Bearbeitung "Richard III." gleich zwei Macht- und Familien-Inszenierungen zeigte. In der Zwickmühle zwischen Freier Szene und Stadttheater hat das HAU bislang die Flucht nach vorne ergriffen, sich freiwillig unbeliebt gemacht und in alle Richtungen fröhlich verkündet, dass Konkurrenz das Geschäft belebt. Aber es hat auch befristete Bündnisse gestiftet und mitgetragen wie beim Freie-Gruppen-Festival "100° Berlin" oder der mehrmonatigen "Zwischennutzung" des ehemaligen Palastes der Republik, für die sich die Sophiensæle mit dem HAU zusammengetan haben.

Von Gästen zu Migranten
Neben allen Überforderungsstrategien ist das HAU aber auch schlicht und nachdrücklich in die Fußstapfen des Hebbeltheaters getreten. Johan Simons, der zur Zeit wohl begehrteste Mann im deutschen Theater, war da. Luk Perceval brachte aus Antwerpen einen "Onkel Wanja" mit, von dem die wenigen, die das Glück hatten, eine der beiden Aufführungen sehen zu können, mit verklärtem Blick schwärmen. Krzysztof Warlikowski kam aus Warschau mit dem jiddischen Drama "Dybbuk" von Salomo Sanwel Rappaport (1916) und verwandelte bei "X Wohnungen" ein altes Stadtbad in Lichtenberg in den Lido, um dort eine sehr bekiffte Version von "Tod in Venedig" zu erzählen. Richard Maxwell setzte einen "Henry IV." vollständig witzlos in den Sand, was nun wirklich keiner hatte ahnen können. Mit alledem war, wie praktisch, der Bereich Literaturtheater vollkommen abgedeckt.

Der brasilianische Choreograph Bruno Beltrao ließ seine katzenhaften Tänzer mit minimalistischen Hip-Hop-Moves glänzen ("Telesquat"). Der russische Stand-Up-Comedian Jewgenij Grischkowez füllte das kleine HAU 3 bis auf den letzten Platz mit vorwiegend pelzbemäntelten Russinnen reiferen Jahrgangs. Der Kollege Caden Manson zeigte mit seiner Big Art Group, was man am Off-Broadway unter Video-Theater versteht: schnelle, schrille Horrorbilderstories, deren Witz und Raffinesse vor allem darin besteht, dass man ihrer technisch und handwerklich ausgefeilten Herstellung zuschauen kann. Denn hinter einer brusthohen Projektionsfläche sieht man, wie die Darsteller in "Flicker" oder "Shelf Life" sich selbst mit der Digitalkamera aufnehmen - und wie sich vor ihnen auf dem Screen die isolierten Gesten und Requisiten zu einer schlüssigen Geschichte zusammensetzen.

Die alte Gießener Schule (Hans-Werner Kroesinger) bezog Position zum Irak-Krieg, indem sie in einem spröden Oratorium die US-Armee auseinander nahm ("Coming Home"). Die neuere Gießener Schule (She She Pop, Showcase Beat Le Mot) setzten als Performer ihrer selbst die Live-Art-Spiele fort, während die neueste (Hofmann & Lindholm, Rimini Protokoll, Lorey/Auftrag) den Schauspieler durch den Experten und Spezialisten ersetzt. Umgekehrt hatten sich Kleinst-Ensembles wie Janec Müllers "Theaterhaus Weimar" in unzeitgemäßen Flaubert-Projekten vergraben, um dem Begriff "Pathos" und seiner Bedeutung für eine ostdeutsche Provinzjugend auf die Spur zu kommen. Es gab konzeptlastige Performances, deren Witz und Spannung darin bestand, dass die Eintrittsgelder gut kapitalismuskritisch an der New Yorker Börse verzockt wurden (Chris Kondek, "Dead Cat Bounce"). Es gab aber auch große Schauspielerspäße wie die "Hollywood Unplugged"-Serie der Schweizerin Barbara Weber, die Blockbusterplots in zum Schreien komisches, popkulturell anspielungsreiches Storytelling überführt. Was es nicht gab, war die Gewissheit, dass das HAU mit seiner Auswahl etwas Bestimmtes mitteilen wollte.

Virus Wirklichkeit
Wenn es auf dieser Welt so etwas wie einen Behauptungsathleten gibt, dann heißt er Matthias Lilienthal. Das "migrantische Kreuzberg", seine "abenteuerliche Lust auf Wirklichkeit" und die "hysterische Sehnsucht nach Realität" sind in Berlin fast schon geflügelte Worte geworden. Auch die Regisseure und Choreographen, von denen der Intendant mehr will als bloß ein abgeliefertes Gastspiel und die er tatsächlich selbst produziert, redet der Intendant beinah gebetsmühlenartig groß - und es macht sogar Spaß, ihm dabei zuzuhören. Vor allem das Regietrio Rimini Protokoll und die Entertainerin Constanza Macras gehören zu den Erwählten, denen Lilienthal zutraut, seinen soziokulturell angehauchten Realitätsbegriff zu bedienen.

In der ersten von rund zehn HAU-Eigenproduktionen ist die Wirklichkeit zwischen 1,20 m und 1,50 m groß und hat süße dunkelbraune Knopfaugen. Acht Grundschüler aus dem Nachbarbezirk Neukölln hat die gebürtige Argentinierin für "Scratch Neukölln" gecastet, allesamt Sprösslinge polnischer, libanesischer oder serbischer Eltern. Die wuseln angenehm selbstverständlich den Tänzern und Tänzerinnen von Macras' Ensemble Dorky Park zwischen den Beinen herum, zeigen ab und zu ein paar Hip-Hop-Kunststückchen oder beantworten brav die Fragen, die die schlauen Dramaturgen ihnen schon in den Proben gestellt haben: Was wollt ihr später mal werden? Wovon träumt ihr? Popstar will keiner werden. Umso mehr tun die Profis so, als wären sie welche. In Camouflage-gemusterter Reizwäsche und sexy Boxerdress vertanzen sie das raue, wilde Großstadtleben, während die Kinder die Zuschauerherzen erwärmen. Zumal die drolligen Hip-Hop-Knirpse, die beim Headspin so lustig durcheinander purzeln, schon die komplette Palette an Macho-Gesten verinnerlicht haben.

Nach so viel urbaner Entwicklungshilfe mussten sich jedenfalls die "Zeugen" (vgl. TH 2/04) von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel im sozialen Feld der Gerichtsbarkeit geradezu kalt und sachlich ausnehmen - auch wenn dort ebenfalls ein gutes halbes Dutzend Laien aus dem realen Berliner Prozessalltag zu Gast war. Die Billy-Wilder-Adaption "Eins, zwei, drei" (vgl. TH 3/04), für die das HAU den Fernsehsender 3sat als Koproduzenten gewinnen konnte, kam hingegen noch nicht mal in der Gegenwart an (geschweige denn in der Wirklichkeit): Das Slapstick-Genie Matthias Matschke und der Regisseur Johannes Grebert turnten in prominenter Besetzung gerade noch halbwegs unterhaltsam dem Original hinterher, schafften es aber nicht, die Frontstadtkomödie mit der Berliner Republik zu vernieten. Woran mag es gelegen haben, dass die HAU-eigenen Produktionen häufig unter den Möglichkeiten der Künstler zu liegen schienen?

Fels in der Brandung
Und plötzlich klappt es. Sebastian Baumgarten, ostdeutscher Nachwuchsstar unter den Opernregisseuren und bislang am Meininger Theater als Hausregisseur beschäftigt, inszeniert mit einem frei zusammengestellten Ensemble den Lars-von-Trier-Film "Epidemic" als Genres sprengende Collage, musikalisch und erzählerisch angereichert mit Richard-Wagner-, Postpunk- und Trip-Hop-Elementen (komponiert, dirigiert und performt von Ari Benjamin Meyer). Die ausufernde Story um eine Künstlerclique, deren Drehbuchidee von der Ausbreitung eines Virus durch Wagner-Musik in die Wirklichkeit einbricht, bringt zwar etliche Prisen Schlingensief und viel zuviel deutschen Künstlermythos ins Spiel. Doch die bandtauglichen Schauspieler um Lars Rudolph (als besessener Lars von Trier) operieren selbst aus dem größten Quark szenische Selbstironie und Irrsinn heraus, sei es beim gemeinsamen Hyperventilieren oder im atmosphärischen Videomaterial. Und der Posaunenchor in der Rolle des Virus erzählt vom Bühnen-Hintergrund her sowieso seine eigene musikalische Geschichte, bis schließlich alle 23 Mann nach vorn an die Rampe rücken, um dem Publikum aus ansteckender Nähe endgültig den Verstand aus dem Hirn zu blasen. Es ist die erste HAU-eigene Inszenierung, bei der man ganz ernsthaft bedauert, dass sie hier nicht im Repertoire gespielt werden kann.

Seit seinem forsch geblafften "Macht was draus!" ist klar, dass Matthias Lilienthal keine Wärmestube für schutzbedürftige Künstler eingeweiht hat, die vom Theater vor allem erwarten, dass es Streicheleinheiten und regelmäßige Überweisungen verabreicht. Er hat auch kein neues Labor eröffnet, in dem junge Talente unbehelligt bis zum Sankt Nimmerleinstag experimentieren dürfen - sondern eine Plattform zur Verfügung gestellt, auf der es haltlos, zugig, also eher ungemütlich zugeht. Damit bildet das HAU letztlich die hektischen Suchbewegungen einer Gesellschaft ab, die auch nicht so richtig weiß, wie und wohin es weitergehen soll. So aufrichtig diese Position im Moment auch sein mag - es wäre mitunter nicht schlecht, wenn es zwischendurch Zeit, Raum und Kunst gäbe, die das Nachdenken genau darüber zuließen.

Bis auf weiteres muss man sich deshalb wohl an den Organisator des Chaos halten, der ja eher als kämpfender Underdog auftritt denn als zaghaft Suchender. Immerhin ist Matthias Lilienthal, der Kreuzberger Preisboxer mit kindlichem Kichern und scharfem Intellekt, am Ende der ersten Spielzeit der Einzige, der in der galoppierenden Vielfalt seines Programms wie der sprichtwörtliche Fels in der Brandung steht. Jetzt fragt sich nur, ob ihm nach der wilden ersten Runde im nächsten Jahr auch ein paar lange Gerade gelingen. Ring frei.



Lob des Experiments
Berlins Hebbel am Ufer ist "Theater des Jahres"

von Peter Laudenbach

Der Tagesspiegel, 10.09.2004

Was dem Spekulanten die Börsenkurse, ist den Theaterleuten einmal im Jahr die Kritikerumfrage der Zeitschrift "Theater heute". Nach der Lektüre von deren Jahrbuch weiß die Branche, wie viel Kapital sich auf ihrem Ruhmeskonto angesammelt hat.

Beim Börsenbarometer 2004 trägt der Neue Markt den Sieg davon: risikoreich, enorm volatil und begeistert von neuen Technologien. Das "Theater des Jahres" steht in Berlin und heißt Hebbel am Ufer. Sechs der 39 befragten Kritiker haben die drei Hebbel-Bühnen auserwählt, die unter den Logos HAU 1, 2 und 3 von Intendant Matthias Lilienthal radikal runderneuert wurden. 6 aus 39: Das klingt wie ein Lottogewinn, "nur dass es dafür kein Geld gibt", so Lilienthal zum Tagesspiegel. "Ich habe zehn Minuten gebraucht, um mich darüber zu freuen. Als Berufspessimist denke ich immer zuerst daran, welche Gefahren das mit sich bringt," sagt der Intendant in schönster Bescheidenheit. Die Wahl ist in der langen Geschichte der "Theater heute"-Umfrage eine Premiere: Zum ersten Mal wurde eine freie, experimentierfreudige Spielstätte gewählt. Allerdings eine, die mit 120 Premieren in nur einer Saison rekordverdächtig ist. Theatergänger, die beim Namen "HAU" bisher fragten, ob das weh tut, werden die Bühne jetzt gewiss für sich entdecken. Dass mit der Auszeichnung der Beobachtungsdruck steigt: Das Theater mit dem wahnsinnigen Output wird es bestimmt locker wegstecken.

Der Rest der Hauptstadt geht bei der Umfrage weitgehend leer aus - offenbar zählen in der Theaterstadt Berlin mittlerweile vor allem die Extreme. Kein Zufall jedenfalls, dass bisher Frank Castorfs wilde Volksbühne fast das Monopol auf die Nominierung zur Bühne des Jahres hatte. Das bürgerliche Guckkasten-Theater, die gediegenen Klassiker - das ist in Berlin schwächer als andernorts. Hier funktioniert das Radikale besser. Was gut zum rauen Berliner Klima passt.

Beim HAU bedeutet das zum Beispiel, dass Performances und Installationen in Dutzenden von Privatwohnungen gezeigt werden ("X Wohnungen") oder die grelle Choreografin Constanza Macras mit ihrer Compagnie und Neuköllner Immigranten-Kindern ein Tanzstück inszeniert ("Scratch Neukölln"). Neben solchen Experimenten zeigt das HAU das Theater der Avantgarde, von der New Yorker Wooster-Group und den Stars von "Hollandia" bis zu den Multimedia-Spektakeln der New Yorker Big Art Group. Wooster und Big Art Group werden auch die neue Spielzeit eröffnen.

Sunnyi Melles, die Schauspielerin des Jahres, kommt aus München - was man ihrer Russin in Barbara Freys "Onkel Wanja" auch deutlich ansieht. So kokett und teuer parfümiert erlebte man eine Tschechow-Dame selten. Schauspieler des Jahres ist Thomas Dannemann (früher: Schaubühne) mit seiner Rolle in Jürgen Goschs Düsseldorfer "Sommergästen". Auch die Inszenierungen des Jahres stammen nicht von Castorf, Ostermeier oder Sasha Waltz, sondern, mit je sechs Stimmen, von Jürgen Gosch ("Sommergäste") und Johan Simons ("Anatomie Titus Fall of Rome", Münchner Kammerspiele). Simons wird die Saison an der Volksbühne mit der Dostojewski-Bearbeitung "Der Zocker" eröffnen. Und Gosch inszeniert am Deutschen Theater im November Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf".



Gesprächsthemengenerator des Jahres
von Ulrich Seidler

Berliner Zeitung, 10.09.2004

Die Rechnung war einfach und ist doch aufgegangen. Der Dramaturg Matthias Lilienthal, der vor einem Jahr das Hebbel-Theater, das Theater am Ufer und das Theater am Halleschen Ufer übernahm, die drei Häuser zum Hebbel-am-Ufer zusammenschloss, dem konglomerierten Institut die mehr als griffige Abkürzung HAU verpasste und dieselbe mit kalauerischen Holterdipolter-Plakaten illustrierte, auf denen Neuköllner Jungerwachsene mit blau geHAUenen Augen zu sehen waren -, dieser frisch eingesetzte Institutsleiter konnte schon neun Monate später, im vergangenen Juni, beim selbst verfassten Ausblick auf eine zweite HAU-Saison, seinen Kollegen von der Presse verkünden: "HAU ist als Label aus der Stadt nicht mehr wegzudenken."

Die Zeitschrift "Theater heute" antwortete nun mit der Kür des HAU zum "Theater des Jahres". Diese Entscheidung darf durchaus als Schlag auf's Auge der deutschen Staats- und Stadttheater verstanden werden, die im höherkultürlichen Auftrage viel mehr öffentliches Geld verbrauchten als Lilienthal. Und das obwohl sein Programm, wie gemeldet wird, "Avantgarde-Anspruch" habe - also per se, wie impliziert wird, eigentlich keinen weiter interessieren dürfte. Genau das tut es aber hier in der Hauptstadt.

Lilienthal ist mit, wie in bangem Respekt zu sagen ist, unerschöpflichem Schwung in eine Kulturanbietermarktlücke gestoßen, die sich eigentlich nur in einer Stadt wie Berlin, wo die Einwohner mit Kulturangeboten überschüttet werden, auftun konnte. Diese Lücke klafft immer dann, wenn sich ein Hauptstadtbewohner interessant machen will mit den Erlebnissen des Vorabends und sich dabei in unmittelbare Gefahr begibt, in der Gegenrede eines anderen Hauptstadtbewohners von etwas noch viel Interessanterem zu hören.

Jemand, der im HAU war, kann ruhig warten, bis alle anderen fertig berichtet haben, denn er hat immer etwas höhergradiges draufzusetzen. Er hat nicht einfach nur herkömmlich im Theater, im Konzert, im Kino oder im Klub gesessen, sondern in einem medial und diskursiv reflektierten Theaterkonzertkinoklub. Selbst ein Hauptstädter, der es beim Interessantmachen mit der Gegenstrategie versucht und sagt: "Och, ich hab mich sehr gut mit einem Buch unterhalten", konnte abgehängt werden mit der Antwort: "Wir im HAU auch, aber..." und angefügt wird eine Literatur-Welt-Kunst-Interferenzen-Auseinanderklamüserung, die "erlebt" wurde, als am Vorabend Avantgardisten einen Roman von Herman Melville nicht etwa nur vorlasen oder vorspielten oder vorsangen oder sonst wie vorstellten, sondern ihn Wort für Wort an die Tapeten des ehrwürdigen Hebbel-Theaterhauses schrieben.

Das dargestellte Kommunikations-Phänomen funktioniert natürlich auch in der weiteren Öffentlichkeit: Über das HAU lässt sich dankbar publizieren, besonders natürlich in seinem ersten Jahr, so lange die Ideen noch so schön neu riechen. Die konzeptionellen Pointen brauchen lediglich weiter erzählt zu werden, und schon ist der Artikel fertig. HAU-Rezensionen bestehen in überdurchschnittlich hohem Maß aus der Beschreibung der jeweilig neu erfundenen Veranstaltungsfunktionsweise - und demzufolge in geringerem Maß in einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Werk. Am HAU veralten die Theater-Neuerfindungen schnell, und die Kritiker kommten mit Kriterienausbrüten schwer hinterher.

Lilienthals Leistung, für die er nun vom Theaterkritikergremium ausgezeichnet wurde, besteht darin, dass er es geschafft hat, sich im allgemeinen Profilierungsrauschen unverzüglich ins Gespräch zu bringen - die nächste Aufgabe für ihn und uns bestünde darin, herauszufinden, was er da zu suchen hat.



Berlin feiert das Theater des Jahres
von Matthias Heine

Berliner Morgenpost, 11.09.2004

Neuköllner Amateurboxer standen Modell für die Plakate, mit denen das neue Theaterkombinat Hebbel am Ufer (HAU) wirbt. Nun hat es sich durchgeboxt: Kritiker wählten das HAU zu Deutschlands "Theater des Jahres"

Eine Überraschung ist es nicht, dass das Berliner Hebbel am Ufer (HAU) in der Kritikerumfrage des Branchenblatts "Theater heute" ganz vorne landete. Denn erstens gehört Matthias Lilienthal zu den beliebtesten Menschen der Branche. Der 44 Jahre alte ehemalige Co-Intendant der Volksbühne und Leiter des Festivals Theater der Welt im Rheinland 2002 verbindet kreative Intellektualität mit dem Gebaren eines Pragmatikers, der sich nicht zu schade ist, intensiv über die optimalen Raumtemperaturen bei einer Premiere nachzudenken. Unter seinem rauen, gelegentlich überfallartig hervorbrechenden Berliner Humor verbirgt sich eine Menschlichkeit, die in einer Branche voller egozentrischer Sadisten keine Selbstverständlichkeit ist.

Zweitens wirkt auch in der Bühnenwelt der Reiz des Neuen, und ein wiederholter Triumph der ewigen Favoriten Zürcher Schauspielhaus, Thalia-Theater Hamburg und Münchner Kammerspiele hätte wohl nicht nur beim lesenden Publikum, sondern auch bei den an der Umfrage beteiligten 39 Kritikern selbst ein Gähnen ausgelöst.

Drittens verkörpert das HAU einige der theatralen Megatrends der jüngeren Zeit: Es ist interdisziplinär nicht nur in dem Sinne, dass sich hier Sprechtheater, Tanz, Musik und bildende Kunst, wenn's gut geht, spektakulär vereinen. Man strebt auch sonst ständig über die Grenzen der klassischen Bühnenkunst hinaus. Das Theater, wie es der Studienabbrecher Matthias Lilienthal versteht, ist auch eine hippe Volkshochschule oder ein Club mit Fortbildungsmöglichkeit. Typisch dafür ist die "Mobile Akademie", bei der Künstler und Wissenschaftler gerade unter dem Arbeitsbegriff "Fakelore" nach der Entstehung neuer urbaner Folklore fragen.

Typisch fürs Theater des neuen Jahrtausends ist zu guter Letzt auch der Drang, die eigenen drei Wände zu verlassen und sich ungewöhnliche Veranstaltungsorte zu suchen, nach dem guten alten "Akte X"-Motto "Die Wahrheit ist irgendwo da draußen". Das HAU suchte die Wahrheit unter anderem in Kreuzberger Privatwohnungen, wo Inszenierungen von Regisseuren wie Fatih Akin gezeigt wurden, und jetzt im Palast der Republik - dort gehören Lilienthal & Co zu den treibenden Kräften einer vorübergehenden Umwidmung der Ruine zum "Volkspalast".

Die Wahl durch die Kritiker wäre vermutlich noch deutlicher ausgefallen, wenn unter den großen Eigenproduktionen des HAU wenigsten eine gewesen wäre, die die Ansprüche an eine wegweisende Inszenierung erfüllt. Doch das konnte man selbst der viel beachteten Tanzperformance "Scratch Neukölln" von Constanza Macras nicht nachsagen. Erst recht nicht solchen Halb-Flops wie den Musicals "Eins, zwei ,drei" oder "Epidemic".

So bewahrheitet sich im HAU auch eine Binsenweisheit des Theatermarketings: Wenn es gelingt, ein Haus als Marke mit einem jungen und wilden Image zu etablieren, kommt es gar nicht mehr so sehr darauf an, was auf der Bühne gezeigt wird - die Besucher kommen erst mal aus lauter Neugier. Und den Zuschauern fällt gar nicht auf, dass Lilienthal unter neuem Design eigentlich vieles beibehalten hat, was schon vorher in den drei Theatern gepflegt wurde, durch deren Zusammenschluss das HAU erst entstand: Im Hebbel-Theater zeigt er internationale Gastspiele und pflegt die Vernetzung mit den Szenen Südamerikas und des Ostblocks. Das tat auch die ehemalige Hebbel-Intendantin Nele Hertling. Bloß wollte das bei ihr zuletzt keiner mehr sehen. Dort und im Theater am Halleschen Ufer, der zweitgrößten Bühne, wird auch weiterhin der Tanz mit ganz ähnlichem Personal wie bisher gepflegt. So bewahrheitet sich am HAU die banale Lebensweisheit: Manchmal muss sich alles ändern, damit vieles gleich bleiben kann.