Die Geschwindigkeit der Veränderung


Ein Gespräch mit Laurie Anderson (Heft 1)

Sie haben nach Ihrer "Home of the brave" Tour eine neue Platte herausgebracht, "Strange Angels" und bereiten eine neue Performance mit dem Titel "Halcion Days" für die Expo '92 in Sevilla vor, die später auch in Berlin (Hebbel-Theater) und Frankfurt (Theater Am Turm) zu sehen sein wird. Darüber hinaus haben Sie angefangen, an einer Reihe von Universitäten in Amerika Reden zu halten. Was ist das für eine Veranstaltungsreihe?

Anstatt ein Musik-Video für das Album "Strange Angels" zu drehen, entschloß ich mich, eine Reihe öffentlicher Aufrufe zu verschiedenen politischen Themen zu verfassen. Während des letzten Jahres bin ich mit einem langen Vortrag mit dem Titel "Voices From The Beyond" aufgetreten, meine bislang offensichtlich politischste Arbeit. Ich bin nicht mal mehr sicher, ob es sich dabei überhaupt noch um Kunst handelt. Die Spanne reicht vom Geschichtenerzählen bis zur Agitation. Ich habe inzwischen über 20 solcher Reden gehalten. Verschiedene Universitäten haben mich eingeladen, vor den Studenten zu sprechen. Bei diesen Veranstaltungen werden weder Lieder gesungen noch zeige ich irgendwelche Videos, sondern es gibt nur ein Dia und mich, die spricht. Die Dinge, die ich erzähle, haben etwas mit Zeit zu tun, die rückwärts läuft. Für die Leute gibt es eine Art 'Countdown' bis zum Jahr 2000. Man guckt auf diese drei Nullen am Ende der Zahl. Mir kommen immer mehr Zweifel, die mit diesem 'Countdown' zu tun haben. Die Leute brauchen manchmal große Zeichen, weil so viele Dinge in den letzten zwei Jahren passiert sind. Stellen Sie sich vor, es gibt hier in den Vereinigten Staaten so viele 'Fundamentalisten', die glauben, daß im Jahr 2000 alle zu Jesus Christus gelangen. Die heilige Stadt Jerusalem, alle Amerikaner, die sozusagen aus ihren Autos herausfliegen um 24 Uhr und auf der Stelle zu Jesus Christus kommen. 60 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten sind begeistert von der Idee, daß Gott herunterkommt am Ende dieses Jahrhunderts und alle Christen mitten aus ihrem Leben, mitten aus Telefongesprächen und ich weiß nicht was allem, herausreißt und mitnimmt. Und noch mehr Leute glauben an die Hölle und Bestrafung.

Das klingt ja fast nach Tiraden, und das hat doch auch einen negativen Beigeschmack.

Ja, es sind Tiraden, aber ich versuche realistisch zu sein, nicht negativ. Es ist einfach interessant zu sehen, wie die Leute auf meine Reden reagieren. Ich versuche z.B. darüber zu sprechen, daß wir in Amerika seit dem Golfkrieg auf einmal nur noch eine Nachrichtenstation haben. Wo sind ABC und die anderen? Sie sind alle verschwunden hinter CNN. Wir sehen die ganze Welt gefiltert durch CNN.

Der Golfkrieg und die Diskussion darüber haben Sie sehr beschäftigt?

Ja. Es gab so viele Arrangements, die mit dem amerikanischen Militär gemacht wurden. Wie in allen Kriegen verfolgt das Militär ein bestimmtes Ziel. Und das besteht teilweise darin, den Nachrichtenstationen zu diktieren, wie sie über den Krieg berichten sollen, in welcher Sprache, wann und wo. Also hat die ganze Welt zugehört, wie eine Fernsehstation sozusagen direkt aus dem Pentagon berichtet hat.

Während des Golfkrieges war es kaum jemandem möglich, Einwände gegen Politik oder ihre Taktiken vorzubringen. Der Krieg wurde als Drama präsentiert, als gelungene Reklame, als komplette Show mit phantastischen Graphiken und donnerndem patriotischen Soundtrack. Er war schon in der Nachbereitung, im Schneideraum, als er noch andauerte. Niemand beschwerte sich, genauso wie es keinem Kinobesucher einfallen würde, während des Filmes aufzuspringen und zu rufen: "Was für eine lausige Handlung!" Wollte man sich beklagen, mußte man eine andere Form von Unterhaltung finden, mußte sich tarnen, wie diese Musiker, die sich zusammenfanden, um die Platte "Give Peace a Chance" aufzunehmen, und dann verlautbarten, vielleicht wären sie für den Krieg, vielleicht auch dagegen, aber irgendwie wollten sie das Lied einfach singen. Jetzt, nachdem die patriotische Verzückung und die Siegesparaden bereits Geschichte sind, kann der Krieg diskutiert werden. Er wird inzwischen von vielen Leuten als zynischer Versuch angesehen, über die eigenen drängenden ökonomischen Probleme hinwegzutäuschen. Das heißt nicht, daß diese Art von Hysterie nicht wieder aufkommen könnte. Weit gefehlt. So wie die Hearings über sexuelle Belästigung bewiesen haben, lieben die Amerikaner den übers Fernsehen vermittelten Sex, so wie die gewaltigen "soap operas", besonders wenn sie in Echt-Zeit stattfinden.

Und da beginnen Ihre Tiraden?

Nein, es ist nicht so, daß ich den Leuten auf den Kopf haue und sage: "Schaut her, habt ihr es nicht gewußt, habt ihr nicht gefragt?" Eigentlich, und das ist vielleicht der Hintergrund, bin ich Patriot. Ich glaube, daß alle Amerikaner von Grund auf mitleidvolle Menschen sind.

Sie bewegen sich weg von großen Popkonzerten und gigantisch inszenierten Sho
Ja. Ich arbeite auf einem anderen Level zur Zeit. Deswegen interessiert es mich mehr, etwas in kleineren Theatern und kleinen Räumen zu machen. In der Universität gibt es nur ein einziges Dia, und ich rede und rede. Die Leute erwarten Musik und High-Tech-Bilder. Ich glaube, sie sind überrascht, daß ich sie stattdessen auffordere, nachzudenken. Als ein Geschichtenerzähler finde ich das wirklich erheiternd. Ich kann viele schnelle Sprünge machen...die Dinge hin und her bewegen.

Kurt Vonnegut hat ein neues Buch geschrieben, in dem es eine Hauptfigur gibt, die sich den Zweiten Weltkrieg auf Video anschaut. Sich den Zweiten Weltkrieg vorwärts anzuschauen, macht hoffnungslos. Aber diese Figur sieht ihn sich rückwärts an. Und rückwärts ist wie eine Vision von Utopia. Ein Flugzeug fliegt rückwärts, rückwärts über Deutschland, wie von Magneten werden die Bomben angezogen und fliegen vom Boden in das Flugzeug und kehren nach Amerika zurück. Die Sachen, an denen ich arbeite, haben so eine Dynamik. Die Geschwindigkeit der Veränderung. In einem anderen Buch, das ich gelesen habe, behauptet der Autor, daß die einzig wirklichen Künstler die Terroristen sind. Sie sind die einzigen, die in der Lage sind, etwas wirklich zu verändern. Eine ziemlich interessante Theorie.

Werden Sie nun zur Weltveränderin?

Ich versuche, die Dinge sehr genau zu beobachten, nicht sie zu verändern. Das ist nicht mein Job. In den späten 60er und den frühen 70er Jahren arbeitete ich als Karikaturistin für die Zeitung "The Street Wall Journal". Ebenso veröffentlichte ich Flugblätter mit eigenen Cartoons über Männer, Frauen und Macht, die ich auf der Straße verteilte. Gleichzeitig arbeitete ich als Bildhauerin, was ich ziemlich getrennt von meiner politischen Arbeit sah.

Nach und nach ergab es sich, daß Politik und Kunst sich in meinen Arbeiten trafen, so etwa in einer Fotoserie "Objekt/Objektivität". Ich machte Aufnahmen von Männern, die mich mit "Hey, Baby!" auf der Straße belästigten und gab Konzerte, z.B. ein Duett zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada, das ich auf der Grenze aufführte. Meine Arbeit hat im wesentlichen mit Autorität zu tun und wie ihr begegnet wird.

Wie bringen Sie diese Gedanken in Ihre künstlerische Arbeit heute ein?

Die freie Meinungsäußerung ist in Amerika in einem bedrohlichen Zustand. Ich denke, es gibt keinen Anlaß, Künstlern vorschreiben zu wollen, auf welche Weise sie bestimmte Probleme anzugehen haben, das kann sehr direkt sein oder aus der Distanz unter Einsatz von Filtern. In den letzten Jahren hat sich die Welt so schnell verändert, daß es geradezu unmöglich ist, alle Schocks zu verkraften. Gleichzeitig fällt es mir immer schwerer, sie zu ignorieren, und ich entschied mich, diese Informationen in meinen Performances zu verwenden, so, als würde ich laut denken. Ich habe nicht das Bedürfnis, sie in Lieder oder Bilder zu übersetzen. Das wäre unmöglich. Auf der anderen Seite gibt es bei einer Arbeit, die politisch orientiert ist, den gefährlichen Aspekt, daß sie zu tendenziösen und propagandistischen Zwecken mißbraucht wird. Ich glaube nicht, daß es Aufgabe der Kunst ist, die Welt schöner oder zivilisierter zu machen. Ich denke, Aufgabe der Kunst muß sein, die freie Ausdrucksweise des Künstlers zu ermöglichen.

Meine Idee von Form ist oft wie ein Argument oder eine Diskussion, deshalb muß ich die Dialektik nicht aufgeben, die es mir ermöglicht, verschiedene Standpunkte einzunehmen zwischen Politik und Kunst oder zwischen zwei verschiedenen politischen Ansichten. Tatsächlich ist die Form stark mit dem Material verknüpft.

Neulich in Wien traf ich den tschechischen Minister für Erziehung und Kunst. Und er hat mir ein Projekt vorgeschlagen. Er hat in einer Höhle in der Tschechoslowakei Wandmalereien gefunden, prähistorische Zeichnungen. Er hat mich eingeladen, in diese Höhle zu kommen und diese Zeichnungen in Musik zu transkribieren. Er schlug mir ein Höhlenkonzert vor. Das besondere ist, daß das Konzert in absoluter Dunkelheit stattfinden muß, denn die prähistorischen Menschen haben auch in absoluter Dunkelheit diese Zeichnungen gemacht. Ja, und dieses Projekt liebe ich.

Wie ist die Situation für Künstler in New York?

Viele Künstler können hier diese Medienattacke nicht überleben. Die Avantgarde wird mehr und mehr aufgesogen, eingefangen. Das Geld hat New York verlassen. Es ist doch absurd, daß man es sich hier nicht leisten kann, Robert Wilsons neuestes Projekt zu zeigen. Die Avantgarde muß immer zuerst gehen.

Sind Sie eine Avantgarde-Künstlerin?

Glücklicherweise muß ich darüber nicht nachdenken. Sagen Sie doch den Leuten, was ich bin. Ich glaube nicht mal, daß die Leute wollen, daß man das genau definiert. Aber seit ich an diesem neuen Stück arbeite, denke ich, es hat auch mehr mit rückwärts als mit vorwärts zu tun. Die Avantgarde hat immer auf Geschwindigkeit basiert. Und das Thema interessiert mich.

Es gibt in Amerika eine Reihe von Künstlern, die ihren Erfolg, ihr Geld, das sie mit kommerziellen Dingen verdienen, benutzen, um damit kleine Theatergruppen etc. zu unterstützen, z.B. Willem Dafoe, der eine große Film-Karriere macht und trotzdem jeden Abend mit der Wouster Group vor 99 Zuschauern Theater spielt.

Ich glaube, er ist ein gutes Beispiel. Seine Loyalität zum Downtown-Theater bewundere ich wirklich.

Sie haben einmal gesagt, Kunst ist für Menschen da, die sie nutzen. Glauben Sie das immer noch?

Ja, das glaube ich. Es gibt immer eine Art von Suche, und die findet natürlich in der Kunst statt.

Wir haben so viel über Politik und wenig über Ihre Kunst gesprochen. Hand aufs Herz, wenn ich Sie frage, was zählt für Sie am Ende mehr, die Form oder der Inhalt?
Untrennbar.


(Das Gespräch führte Tom Stromberg in New York, Herbst 1991)