Von aller Falschheit gereinigt


Ein Gespräch mit Jan Kott (Heft 5&6)

Unter Avantgarde-Theater versteht man heute vor allem ein Theater, wo Text und Worte nicht dominantes Element sind wie im traditionellen Sprechtheater, im literarischen Theater, das nur ein Medium ist, um einen Text zu inszenieren. Andererseits gibt es auch in den Theaterexperimenten heute eine Rückkehr zum Text, zu eigenen Texten oder Adaptationen, das neue Theater ist heute literarischer als vor zehn Jahren, als es vor allem Körper und Bewegungstheater oder Bildertheater war. Sie selbst sagen, daß Sie "alt geworden seien und auch wieder traditioneller in Ihren Ansichten", glauben Sie, daß sich Theater, die ehemalige Neo-Avantgarde, im Retourgang befindet?

Das ist eine schwierige Frage, denn darauf gibt es viele verschiedene Antworten. Es ist nämlich nicht ganz klar, was wir heute unter Avantgarde in der Kunst verstehen, erst recht im Theater, oder was vor zehn oder sogar vor zwanzig Jahren Avantgarde-Theater war. Im Zusammenhang mit Brecht, mit seiner Praxis und seiner Theorie wurde der Begriff 'Avantgarde' nicht verwendet, und dennoch war Brecht- meiner Meinung nach und aus heutiger Sicht gesehen - nach dem Krieg der bedeutendste Erneuerer, der mit seiner Theorie und seinen Aufführungen am meisten 'anzustecken' vermochte. Ich denke hier daran, was Brecht seine 'Modelle' nannte, am deutlichsten sieht man das an den Aufführungen von klassischen Stücken, vor allem von Shakespeare, im Berliner Ensemble. Die 'alienation', der 'Verfremdungseffekt' betraf nicht nur die Schauspielkunst, sondern die Gesamtheit der Beziehung zwischen dem klassischen Text und seinem modernen Bezug, seiner Präsentation für einen zeitgenössischen Zuschauer. Es betrifft sogar das Bühnenbild und die Kostüme, wie zum Beispiel im 'Corlolan', der in Kostümen des deutschen Proletariats gespielt wurde. 'Coriolan' als ein Kapitel des Klassenkampfes. Der 'Verfremdungseffekt' betraf auch den Text, der Text jedoch war stets neben dem Spiel selbst ein Fundament der ganzen Aufführung. In dem, was in den letzten fünf Jahren 'Neuerung' genannt wird, sind der Text und auch die dramatische Struktur nur untergeordnete Elemente dieser 'Reinkarnation' der Klassik. Der Text ist eher ein 'Vorwand' für die Phantasie des Regisseurs, wie wir das jetzt hier bei den Wiener Festwochen gesehen haben, in den Aufführungen der 'Alceste' und 'Der Troerinnen' des Euripides zum Beispiel. Gordon Craig hatte am Anfang unseres Jahrhunderts die Vision des totalen Theaters, in dem das Wort neben der Musik, der Bewegung der Körper, neben dem Bühnenbild und der Beleuchtung nur ein weiteres Element der Aufführung darstellt. Diesem 'total theatre' und Craigs Vision kommt heute die Oper am nächsten. In meiner Jugendzeit schien die Oper die anachronistischste Art von Theateraufführungen zu sein. Nur zum Zuhören geeignet, mit geschlossenen Augen. Es war schon längst vergessen, daß den letterati in Florenz die Oper als die Rückkehr der antiken Tragödie erschien. Am markantesten scheint mir diese Rückkehr zur Oper nicht nur bei den Zuschauern diesseits und jenseits des Atiantik zu sein, sondern auch bei den Regisseuren, und zwar bei so hervorragenden Regisseuren wie Peter Brook, Peter Hall, Peter Sellars, Robert Wilson und vielen anderen ehrgeizigen Künstlern aus jüngeren Jahrgängen. Und was vielleicht das markanteste ist: daß sie vom Drama zur Oper gefunden haben. Die Aufführung, die mich am meisten ergriffen hat und mir die größte, eine geradezu physische Freude bereitet hat, war die 'Carmen' von Peter Brook in den Bouffes Parisiennes. Ausgequetscht bis zur Essenz, doch geradezu vibrierend vor Leidenschaft. Ich habe damals begriffen, daß die Sprache der selbstvergessenen Liebe, die zur Raserei treibt, der Gesang ist.

Andererseits, wenn wir von zeitgenössischem Theater sprechen, dann ist doch gerade die Figur des Schauspielers, seine unvergleichliche menschliche Präsenz, von größter Bedeutung. Während im psychologischen Theater ein Schauspielermehr oder weniger vortäuschend spielt, ein anderer zu sein, ist der Schauspieler/Autor im zeitgenössischen Sinn ein Mensch im Hier und Jetzt, ein Dasein, eine körperliche Präsenz, die nicht vergessen hat, daß sie noch Beine und Arme hat Das vermisse ich besonders bei Sängern, auch im zeitgenössischen Musiktheater, Sänger sind immer nur mit ihrer Stimme beschäftigt, der Körper steht leblos und unbeteiligt da.

Die Entdeckung in Peter Brooks 'Carmen' war die dramatische Schauspielkunst der Sinnlichkeit, die singt. Der Gesang war nicht losgelöst vom Schauspieler oder von der Schauspielerin, wie das in der traditionellen Oper der Fall ist, wo die Diva und der Tenor mit ihrem ganzen physischen Wesen, mit ihrem Alter, ihrem Körperbau und ihren pathetischen Gesten mit den Gestalten, die sie darstellen sollen, in Widerspruch standen. Das war ein ironischer Brechtscher Verfremdungseffekt. Der Gesang und die Gestalt gingen nicht Hand in Hand. Das physische Wesen und das schauspielerische Klischee straften die schönsten Stimmen der Heldentenöre Lügen. Die Zukunft liegt in der Oper, die von aller Falschheit gereinigt ist.

Was denken Sie über Theaterexperimente, die das Moment Zeit radikalisieren?

Eine Rückkehr ist meist nicht möglich oder mit Sicherheit falsch. Das antike Theater war ein Fest von Sonnenaufgang bis -untergang. Die Zuschauer aßen und tranken auf ihren Sitzen. Oder sie schliefen auch zwischendurch ein bißchen. Brook und Wilson haben Aufführungen, die viele Stunden dauerten, versucht, mit wenigen Pausen. Mir scheint es jedoch, daß das in unserem Zeitgefühl und bei unserer Ungeduld kaum möglich ist. Vielleicht bei Festspielen wie in Avignon oder Salzburg. In diesem nun zu Ende gehenden Jahrhundert, in diesem neuen 'fin de siecle', sind die Versuchungen einer Rückkehr stets präsent. Der sogenannte Postmodernismus ist fast immer ein unaufhörliches Zitieren vergangener Stilarten. Insbesondere vielleicht im Theater, wo das Moderne oft nur eine Verfälschung ist. Von der Vogelperspektive aus und mit dem Blick eines Outsiders, der ich seit vielen Jahren bin, gesehen, wird das professionelle Theater bei einem Dahinschwinden von Subventionen und bei einer allgemeinen Rezession immer kommerzieller, oder wie es Brecht genannt hat, immer 'kulinarischer'. Und das nicht nur in Amerika, wo es mit wenigen Ausnahmen seit Jahren bereits so ist. Es lebt von Zuschauern, die immer öfter Touristen sind. Es muß sich ihrem Geschmack anpassen. Produktionen werden immer teurer, und zwar nicht nur am Broadway. Ein Musical, das nicht mindestens hundert Mal gespielt wird, ist ein finanzielles Fiasko. Das professionelle Theater kann nur vom Massenzuschauer gerettet werden. Die Avantgarde-Bühnen, das alternative Theater haben ihren Erneuerergeist längst verloren. Es scheint, daß es seine Entdeckungen und seine 'Provokationen' von vor zehn oder sogar zwanzig Jahren beinahe unablässig wiederholt. Es gibt natürlich immer wieder Ereignisse, die außergewöhnlich sind, wie zum Beispiel die plötzliche Wiedergeburt des Theaters der jüngsten Generation von Regisseuren in Moskau und St. Petersburg und das Theater aus Jakutsk, das sich bei dem internationalen Theaterfestival 'Kontakt 93' in Torun präsentierte. Dieses Jahr hat Goldonis 'Le Baruffe Chiozzotte' in Strehlers Inszenierung nicht nur meine ganz besondere Begeisterung erweckt. Es war ein wahres Meisterwerk beinahe wie Ballett anmutendes Spiel und vor allem von Lichtarrangements. Also ist das professionelle Theater doch auch heute noch in der Lage, durch meisterhafte Kunst zu begeistern.

Das Interview mit Jan Kott führte Brigitte Fürle am 18. Juni während der Wiener Festwochen 1993.