Briefe über Raum


Gedanken von Hans Jürgen Syberberg: (Heft 2)

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Dienstag, den 12. Mai 92

Lieber Herr Ahrens,

nochmal unser Gespräch über die uns zuletzt interessierenden Dinge. Der Raum im Theater erscheint mir immer als der Ort, an dem alle Dinge zusammenkommen, die vier Wände, von denen die Gedanken sich wegbewegen. Durch Erzählungen, Worte, Berichte, Vorstellungen, Projektionen - um es modern zu sagen. Darum versuchte ich immer, auf der Bühne möglichst neutrale, dafür geeignete Plätze zu schaffen und zu variieren, die das zulassen. Darum mied ich gerne feste, realistisch bestimmte Kulissen, gleich welcher künstlerischen Phantasie.

Der Film macht das umgekehrt. Er holt die Welt zusammen, schneidet Realitäten in Versatzstücken aneinander, unsere Projektionen, an den Ort unserer Gedanken im Kopf, das die Amerikaner gerne 'theatre' nennen eben für die Movies, das was sich bewegt, was fließt, alles im Fluß, wir wissen, ein altes Prinzip, die Welt zu sehen und zu erklären, wie die Welt das Theater, Welt-Theater. Die Bühne, der Film, das Theater.
Meine Filme wurden oft im Studio hergestellt und dort an leeren Plätzen ohne Kulissen, die gebaut wären, vor Projektionen, die uns von Hintergrund zu Hintergrund, von einer Bewegung zur andern, von Gedanken zu Gedanken, die Sprache, die Bilder, Musiken oder Geräusche, oft kontrastierend zu einem der Sinne oder unterstützend, wegtragen. Das war in den Filmen von Ludwig, wo ich diese Technik, oder besser Ästhetik erfand, immer mehr verfeinernd, bis zum Hitler-Film und Parsifal, dem Wagner-Film so. Danach, die Monologe, blieben im Raum. Wie die einzige Darstellerin, so die Bilder, wie die Worte, so die Musik. Das Gesamtkunstwerk, das ich früher anstrebte, als Einheit der verschiedenen Gattungen unserer Kunstwahrnehmungen wurde nun zum Welt-Theater in einem Menschen, aus und in seinen Bewegungen, die auf einen Punkt führten, wie von ihm ausgehend, wo für mich Film und Theater zusammenkommen. Auf der Bühne der Film und im Film das Theater. Vor dem Theater sitze ich und hole die Welt herein, daß sie mich wegträgt und im Film fliege ich oder träume und erfreue mich der strengen Koordinaten wie fließender Musik aus Bildern und Tönen. Auf einen Punkt gebrachte Bewegungs-Ruhe. Die Ruhe der Konzentration, die die Theaterarbeit gewährt, ist wie Luxus für den Film, der diese Ruhe erst schaffen muß aus dem Fluß der Dinge, als Sehnsucht des Theaters
HJ Syberberg

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Freitag, den 10. Juli 92

Lieber Herr Ahrens,
noch einen Nachtrag zum Raum. Die Theaterräume, wie sie mir bei einigem Nachdenken über meine bisherige Praxis deutlich werden, sind eigentlich begehbare Räume, in denen früheren Allegorien vergleichbare Sinnträger dessen stehen, liegen oder hängen, für das, um was es dort geht, zur Vita von Personen, der Historie gehörend oder der Zeit oder mit versteckten oder offenen Hinweisen, Assoziationen zum Seelen Mythos der Darstellung bestimmt, was da abgehandelt wird, anders als in Ausstattungsräumen oder denen der stilisierten Bilder wechselnder Moden der Regieepochen oder bestimmter historischer Zeitdarstellung. So wenig wie diese Räume eine Illustration oder bloße Kontrastierung im Interesse einer Regie-Autorenschaft oder allein Dienst an Darstellern anstreben, so wenig wird das Licht zum Design technischer Spiele der Effekte oder zur Lautmalerei der Stimmungen benutzt. Es wird Räume bauen aus dem Geist, der dem Licht innewohnt, so einfach wie möglich und so kompliziert wie erforderlich. Denn so wie der Geist des Lichts heute zur mechanischen Lösung der Aufgaben heruntergekommen ist, so zeigt sich das Desaster des Irrtums des ganzen heutigen Theaters und in ihm der Zustand der Welt und ihrer Menschen im Irrtum falscher Benutzung der technischen Mittel. Denn das was wir Regie nennen, begann mit der Erfindung des künstlich erzeugten Lichts. Das nennen wir den Strom. Die Figur meiner Erfindung bewegte ich in dieser Geographie geistiger Räume, zwischen den Zeichen und Strömen, die von ihnen ausgehen und zwischen Dingen und Punkten der Orte entstehen in der Zeit, in der wir daran teilnehmen und die wir Darstellung oder Vorführung oder Aufführung nennen, und sie tut es für die, die folgend zuschauen, indem sie mitgehen, mitdenken, den Hinweisen folgen, die das Licht gibt, die Töne, die Bewegungen oder Stille, in dem Modell eines Rituals vorne und oben oder auch unten oder in der Mitte. Aber möglichst nicht auf gleicher Ebene und unabgesetzt unter uns. Und das hat nichts mit praktischen Erwägungen zu tun, ist eher eine konzeptionelle und praktische Funktion eines aus dem andern, wie es sein soll.

Auch der Raum des Zuschauers ist inbegriffen, wenn nötig, durch im Raum beleuchtete Dinge (Prinzessinnengruppe von Schadow in der 'Penthesilea' oder die Totenmaske Friedrichs II. an der Rückwand des Zuschauerraums) und sei es nur bemerkt von der Darstellerin, und damit von uns in ihr, wenn sie ihre seltsamen Kreise zieht. So auch ist es dann nicht wichtig, in welchem Raum oder Haus das stattfindet, wenn nur diese geistigen Bezugsströme für Texte, Bewegungen, Augen, Ohren und Sinne nicht gestört werden, darum sind übliche Theater-Häuser am sinnvollsten, weil als Arbeitsräume dieser Phantasien am wenigsten zur Ablenkung und Aufdringlichkeit für Nebeninteressen geeignet.

Diese Unterschiede sind wesentlich und machen alle anderen Illustrationsräume und Aktivitäten oder technische Verselbständigungen unnütz oder arm. Diese von mir bisher erprobten und so belebten Räume der Bühne als Modelle zum Betreten für den gedanklich folgenden Teilnehmer, wie in Performances, Installationen oder dergleichen dienten besonders für zu unseren Zwecken bereiteten Projekten einer Personendarstellung und dem darin intendierten Welttheater aus dem Geist unserer Zeit. Texte nach alter Vorlage ('Penthesilea' und 'Die Marquise von 0.'), also dramatischer wie epischer Gattung oder Montagen aus eigenen Erfindungen der Geräusche, Musiken, Wortzitate waren geeignet in diesen Räumen aufgenommen zu werden. Wie diese Räume für andere Partituren geeignet sind oder ob für museale Interpretationen, auch derjenigen Aufdringlichkeiten der Regieautoren, wird von der Persönlichkeit in der Erfindungsgabe abhängen, die hier ganz im Spannungsfeld eigener Authentizität und der der Zeitmöglichkeit mit jener eventueller Autoren der Vergangenheit (Kleist, Wagner usw.) standen. Wenn es um Dichter oder Komponisten vergangener Zeiten und Kulturen ging, wurde versucht, durch eigene Erfindung auf Umwegen unserer Erfahrung soviel wie möglich das Zentrum der überlieferten Texte und Partituren neu zu beleben, und das gerade im Raum, dessen Dreidimensionalität Geist des Theaters ist von Höhe und Tiefe, wie Breite und was das heißt.
Ihr HJSyberberg

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München, 16. Juli 92

Nachtrag Raum
Der Raum im Falle der Zusammenarbeit mit Edith Clever war sie, und die Bühne das Gehäuse für das Koordinatensystem der gedanklichen Bilder, für Bewegungen, Töne oder die Ruhe, die nicht nur aus den Wörtern und Handlungen entstehen. Deshalb konnte diese Bühne leer sein in den verschiedenen Varianten gefüllt zu werden, um die unbeleuchtete Seite des Wortes wie des Raums für das innere Auge zuzulassen, in dem das Licht ein geistiges ist und die Menschen darin nur Stichwortgeber der Gedanken des inneren Dialogs in einem Monologischen Welttheater.
HJSyberberg

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München, den 20. Juli 92

Lieber Herr Ahrens,
nochmal unser Raum. Nur ein Satz, wenn er noch nicht gefallen ist, aber dann schriftlich zum anderen: Natürlich bewegen wir uns in Seelen-Räumen, wo sonst. Woraus die Mythen ihre Bilder holen und bauen in der Kunst. (...)
Bis bald
Ihr HJSyberberg

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Briefe geschrieben in München am 12. Mai, 10., 16. und 20. Juli 1992