Der unsichtbare Moment


Ein Gespräch mit Saburo Teshigawara (Heft 8)

Ich entwickle meine Stücke nicht durch herkömmliche Bewegungsimprovisationen. Als erstes gebe ich den Tänzern eine Idee vor. Wichtig ist, wie sie die Idee aufnehmen und fühlen. Für mich ist "Fließen" ein grundlegendes Konzept des Tanzes. Es stellt keine äußerliche Figur dar, sondern etwas, was durch Atmung entsteht und im Inneren des Körpers geschieht. Es ist keine isolierte Bewegung, sondern verbunden mit den folgenden Aktionen des Körpers. Wie die Tänzer diese Qualität der Bewegung erreichen, ist der springende Punkt. Die Bewegung hat zunächst keine äußerliche Form. Während der Proben im Studio versuchen wir, die Idee nicht von der Bewegung des Körpers zu trennen. Bereits während man über die Bedeutung von "Fließen" oder "Schmelzen" nachdenkt, tut man es bereits, ohne sich dessen bewußt zu sein. Man kann es erfahren, ohne bewußt darüber nachzudenken. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt: Wie die Tänzer Bewußtsein und Unbewußtes verbinden. In einem Workshop mache ich ganz einfache Vorgaben: was für eine Art Gegenstand ist der Körper?

Der eigene Körper als Objekt?

Ja. Wie fühlt er sich an? Er ist ziemlich schwer. Man braucht etwas Luft. Man braucht Blutdruck und Schwerkraft. Man benötigt einen Fußboden.

Also muß man sich für das sensibilisieren, was den Körper umgibt und stützt. Wenn man dieses Gefühl hat, kann man es in eine Bewegung umsetzen?
Genau. Bevor man sich bewegt, muß man die Raumsituation fühlen.

Das bedeutet die Überwindung des bewußten Gedächtnisses.
Genau. Man braucht kein Gedächtnis, um sich zu bewegen.

Was für eine Rolle spielt das Gedächtnis aber dann in ihrer Arbeit?
Das ist eine sehr interessante und komplizierte Beziehung. Wir kommen um das Gedächtnis nicht herum, ob wir es wollen oder nicht. Aber dieses ununterbrochene Gedächtnis kommt nicht vom Verstand her.

Es ist also ein Körpergedächtnis?
Ja. Der Körper hat bereits ein Gedächtnis. Besonders die Gelenke. Haut und Muskeln haben schon ein Gedächtnis, selbst wenn wir uns dessen nicht bewußt sind. Meinem Verständnis nach hat jedes Gelenk oder jeder Knochen ein starkes Gedächtnis...

Von was?
Von seinen Möglichkeiten. Wenn man ein Geräusch hört, reagiert der Körper. Auch wenn man es gar nicht will, bewegt man sich automatisch. Natürlich läuft das auch über das Gehirn, aber die Bewegung ist viel schneller als das Gehirn. Das Denken kommt für die Bewegung oftmals zu spät und zu langsam. Darum geht es mir in meiner Arbeit. Wenn wir Tanz erschaffen, sind wir nur Körper. Wir spüren die Luft und unser Gewicht. Dieser Sinn für die konkrete Situation ermöglicht es uns, uns anders zu bewegen. Das Körpergedächtnis der Bewegungen ist also eher ein unbewußtes Gedächtnis.

Gebrauchen Sie ein persönliches Zeichensystem, eine Typologie des Körpers und seiner Bewegungen?
Ich denke über diese Dinge auf eine materielle Art nach. Um ein System von Zeichen zu schaffen, muß man das Material des Körpers und seiner Funktionen verwenden. Dafür ist die Dynamik von Anwesenheit und Abwesenheit zentral. Man muß die Bewegungen und den Unterschied zwischen Bewegung und Körper bestimmen. Als Form, Figur oder Gestalt betrachtet, fungieren der Körper und seine Bewegungen als Zeichen. Diese Zeichen sind zunächst bedeutungslos. Um sie aber produktiv zu machen, braucht es einen Bedeutungshorizont. Ohne einen Horizont wäre das bedeutungslose Zeichen ohne Richtung. Der Körper und seine Bewegungen würden sich dann im Erscheinen und Verschwinden wieder ihrer nichtsymbolischen und nichtsemiotischen Qualität annähern.

Der Prozeß der Erinnerung, den Sie vorher beschrieben haben, meint, daß das, was man erinnert, keine Substanz und keinen spezifischen Gehalt hat. Der Körper erinnert kein spezifisches Bild, wenn er das Geräusch hört, sondern er reagiert und erzeugt etwas Neues.
Das hat auch mit Zeit zu tun. Im Tanz habe ich das Gefühl, daß es die Zeit noch nicht gibt, daß sie noch nicht bereit für mich ist. Mit einer Bewegung berühre ich zwar immer die vorangegangene Bewegung, aber dieser Fluß ist keine Spur, die man hinter sich herzieht wie beim Skilaufen. Das wäre eine Spur in der Vergangenheit, wogegen unser Fluß beim Tanzen immer schon in der Zukunft ist.

Die Erinnerung der Bewegungen ist also etwas, das in die Zukunft führt?
Beim Tanzen hat man keine Verantwortung für das, was nach dem jeweiligen Moment passiert. Unser Atmen ist z.B. keine Erinnerung. Es führt immer in die Zukunft, weil es die Zukunft eröffnet. Wir stehen immer vor einer neuen Zeit. Ich bewege mich die ganze Zeit, auch wenn ich hier ganz ruhig in meinem Sessel sitze.

Wie beeinflußte das, was man "Kulturgedächtnis" nennen könnte, die Arbeit an ihrem letzten Stück, "Noiject"? Das Stück erschien mir äußerst reich an kulturellen Resonanzen japanischer Geschichte, wie etwa Kriegsbildern oder der Erfahrung moderner Hochtechnologie.
Daran habe ich beim Choreographieren eigentlich nicht gedacht. Ich möchte in meinem Kopf Dinge finden, die ich nicht erlebt habe. Dinge finden heißt hier, daß sie nicht zum bewußten Gedächtnis gehören. Ich bin aber sehr neugierig, etwas aus der Luft zu greifen. Ich habe wirklich nicht recherchiert, bevor ich "Noiject" gemacht habe. Ich mag so etwas nicht. Die schwarzen Kostüme in "Noiject" und das Glaskostüm in "White Clouds", zum Beispiel, sind eigentlich keine Bilder von Drachen, wie Sie angenommen haben. Das Kostüm in "Noiject" stellt ein lebendiges Objekt dar: weder Mensch noch Tier, sondern ein flüssiger Existenzzustand.

Vielleicht kann man den kreativen Prozeß wirklich als "etwas aus der Luft greifen" beschreiben. Aber dieses Greifen setzt ja bereits einen kulturellen Code voraus, da die Körper, mit denen Sie als Choreograph arbeiten, immer schon Teil einer bestimmten Kultur mit ihren individuellen und kollektiven Geschichten, Traumata und Symbolen sind.
Richtig. Ich glaube nicht an die Darstellung der offiziellen Geschichte. Wir haben eine unglaublich lange Geschichte, aber Dinge, die nicht gedruckt, im Film oder Video dokumentiert wurden, sind verschwunden.

Was wir wissen, ist bereits eine Auswahl.
Es gibt andere Geschichten, wie die des Körpers, der Natur oder die des Wassers.

Geschichte, die nicht in offiziellen Darstellungen zu finden ist.
Ja. Die Leute sagen immer, ich kenne mich in der Geschichte aus. Ich kenne die Geschichte aber nicht. Also interessiere ich mich dafür, etwas aus einem Raum hervorzuholen, was ich noch niemals erlebt habe. Sie können es Gedächtnis nennen, und vielleicht ist es tatsächlich ein Gedächtnis. Wenn wir hier in diesem Raum keine Tür hätten, müßten wir darin bleiben. Aber ich will eine Tür erzeugen, ich will meine Hand durch die Wand stecken, um eine Tür zu schaffen. Das ist meine Haltung zum Tanz: Schaffe, was es noch nicht gibt. Ich interessiere mich sehr für die Schwerkraft. Der Mensch kann sich ohne Hände am Boden nicht seitwärts in der Horizontalen bewegen. Für die Tänzer liegt da ein großer Widerstand. Fische können im Wasser tanzen, und Wolken können am Himmel schweben...

Eine Kultur durch das unbewußte körperliche Gedächtnis erinnern heißt, die Disziplin und den Schmerz erinnern, den die Kultur dem Körper zufügt, um ihn nutzbar zu machen. Tanz ist Formung des Körpers. Was ist die Beziehung zwischen individuellen Erinnerungen und Erfahrungen und dem Kollektiv in Ihren Tanzformationen?
Individuelle Erinnerungen sind ein Konglomerat von unbewußten Normen und der Erfahrung von Phänomenen als bloße Möglichkeiten. Erfahrungen sind nur die eine Hälfte menschlicher Existenz. Die andere Hälfte ist das, was (noch) nicht erfahren wurde. Erfahrung und Möglichkeit sind Zwillinge. Vielleicht lebt der Tanz vom Aufziehen dieser Kinder. Die Möglichkeit als amorphes Fließen entdeckt etwas am Wegrand und versucht es mit dem kollektiven oder kulturellen Gedächtnis zu verschmelzen.

Sie arbeiten gerne mit starken Lichtkontrasten. Die Tänzer werden von der Dunkelheit regelrecht verschluckt, um an der Übergangs- oder Bruchstelle hochdramatische Effekte zu erzielen.
Ich würde sie nicht dramatisch nennen, sondern als Arbeit an Dimensionen beschreiben. Ich interessiere mich beim Tanz sehr für Dimensionen.

Das Verschwinden der Tänzer als Bruch zwischen den Dimensionen?
Oder als Auffinden von neuen Dimensionen. Es könnte eine vierte Dimension sein oder auch die hundertste, das ist mir egal. Es bedeutet, daß wir diese Dimensionen irgendwie sehen, aber nicht beschreiben oder verstehen können. Was wir da sehen, ist vielleicht vom Gehirn erzeugt, aber es ist keine Illusion.

Wie ist die Beziehung zwischen dem Auffinden von neuen Dimensionen im Tanz und dem Gedächtnis des Körpers?
Ich würde unterscheiden zwischen "unsichtbarer (ungesehener) Dimension" und "Körpergedächtnis". Die unsichtbare Dimension existiert auf ein Gedächtnis ausgerichtet, ist aber nicht mit ihm identisch. Das erzeugt ein Paradoxon, einen Bruch im Raum, der auch den nichtphysikalischen Raum einschließt, den Vorstellungs und Bewußtseinsraum. Er wird sichtbar, wenn man versucht zwischen Körpergedächtnis und Denken zu unterscheiden. Denken bringt das Gedächtnis in Bewegung und zur Entwicklung. Wenn ich am Unsichtbaren arbeite, kann es sich nicht durch Gedächtnis allein ausdrücken. Nur Denken führt zu neuen Erfahrungen und Entdeckungen. Das Gedächtnis selbst kann ohne Denken nicht wahrgenommen werden. Darum ist das Gedächtnis der "aus"Zustand des "an/aus" Knopfs, und Sehen (Denken) heißt, das "aus" erkennen. Leben beginnt, wenn der Schalter auf "an" steht.

Könnte man Ihre Arbeit als Paradox beschreiben: das Paradox der Gelenke des Körpers, die aus ihrem Gedächtnis etwas völlig Neues schaffen, etwas das sichtbar und unsichtbar, unbewußt und bewußt zugleich ist?
Will man leben und etwas erschaffen, kann man sich diesen Paradoxien nicht entziehen.

Aber es ist die Kunst, die sie sichtbar macht.
Ein Stück zu machen, ist immer etwas Paradoxes. Ich will das Paradox sehen. Das ist produktiv. Sonst würde ich nur ausgetretenen Pfaden folgen. Ich will weder der Zeit noch der Geschichte folgen. Um das zu erreichen, sind die Tänzer das wichtigste Element auf der Bühne.

Aber Sie arbeiten trotzdem in einem stark bildnerischen Raum. Könnte man sagen, daß das Gedächtnis im Spalt zwischen den Tänzerkörpern und den Objekten, die sie auf der Bühne plazieren, entsteht?
Man muß den Raum als einen virtuellen Zustand sehen. Dieser Raum ist leer und kann nicht bequem mit bewußter Erinnerung vorstellen, ohne sie aus einem Archiv von Erinnerungen hervorzuholen. Das Gedächtnis ist deshalb in einer seiner Bedeutungen eine Illusion. In einer anderen kann es als extreme Objektivität beschrieben werden. Das kommt daher, daß Objekte nur in der Vergangenheit existieren. Sie werden lebendig und erscheinen im Raum durch ihre Beziehung zu den Tänzern. Der Mensch kann, im Gegensatz dazu, nicht in der Vergangenheit leben. Körper und Objekt überschneiden sich in diesem paradoxen Raum, der die Realität der Bühne ist. Wenn zum Beispiel ein Objekt einen Schatten wirft, ist dieser Schatten noch Teil des Objekts. Wenn ich die Tänzer in eine Beziehung zu diesem Objekt stelle, geben sie ihm eine gewisse Energie. Und diese Energie, die nur in der Beziehung von Körper und Objekt besteht, verändert dann den Raum. Die Lücke zwischen Objekt und Körper, das heißt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wird vom Gedächtnis überbrückt. Von diesem körperlichen Gedächtnis kann man sich deshalb unsichtbaren Dimensionen annähern. Dennoch kann der Körper seine gegenwärtige Situation aufnehmen, ohne sich dafür eines bewußten Gedächtnisses zu bedienen.

Das Gespräch führte Gerald Siegmund am 15. Juli 1994 in Frankfurt am Main und per Fax zwischen Tokio und Frankfurt im Zeitraum vom 12. September bis 2. Oktober 1994