Zwischen Himmel und Erde


Ein Gespräch mit Anne Teresa de Keersmaeker (Heft 2)

Raumgebrauch

Bei der Konstruktion einer Vorstellung ist man ständig mit der Art und Weise beschäftigt, wie man die Zeit und den Raum aufteilt. Wie und was man wo tut und über welche Strecke. Vielleicht ist das in der Entwicklung der Arbeit von Rosas allmählich komplexer geworden. Die Musik ist immer der Ausgangspunkt. Der Gebrauch des Raumes in 'Fase' entspricht der Geradlinigkeit und Repetitivität von Steve Reichs Musik, der Ökonomie der Musik.
Bei 'Ottone, Ottone' laufen die Linien viel mehr durcheinander; für jede Figur wurde eine eigene Strecke ausgearbeitet. Die Strecken waren nicht beliebig. Der Aufbau der Figuren verlief über die Wege, die sie im Raum zurücklegten, über die Plätze, die sie darin einnahmen. Die Orte waren gleichsam Leitmotive; jede Figur hatte ihr 'eigenes Haus'. Man konnte die Geschichte 'lesen', indem man den Strecken folgte, die sie zurücklegten. Die frontale Linie bei der ersten Konfrontation von Nero und Poppea, - wo sie miteinander sprechen -, kommt in ihren späteren Duetten zurück. Die Konfrontation zwischen Nero und Octavia fand an einer bestimmten Stelle im Raum statt, Up-Stage, auf der Höhe der 'Spitze' des Bühnenbildes; dieser Ort war auch der 'Brennpunkt' im späteren Solo von Octavia.
Es ist so schön, wenn jemand an einen Ort kommt, wo jemand anderes eine Zeitlang gewesen ist und bestimmte Dinge getan hat. Es ist, als ob man die Luft, die Energie des Ortes aufladen und mitnehmen kann. Diese Art Geometrie der Figuren gibt es natürlich viel weniger in einer Vorstellung wie 'Rosas danst Rosas'; dort ist der Ausgangspunkt abstrakter, die Geometrie wird nicht durch die Zeichnung einer Geschichte bestimmt.
In 'Medea' war der lange schmale Raum eine der Grundvoraussetzungen an sich. Wir wollten die Zuschauer in der Nähe haben und doch keinen kleinen, abgeschlossenen Raum machen. Die zwei Figuren konnten in dem Raum weit voneinander entfernt sein; die Annäherung zwischen Jason und Medea hierdurch sehr bemessen sein und sehr ausgedehnt werden. In Müllers Text sagt Medea, sie will "wohnen in der leeren Mitte"; für uns war das die Stelle, an der die Amme saß, eine zur Seite hin schiefgezogene Mitte, wo sich alle drei zu Beginn der Vorstellung befinden; die emotional leere Mitte zwischen Jason und Medea.


Boden/ Spirale/ Brücke/ Kreis

Vielleicht gibt es doch eine Entwicklung im Gebrauch des Raumes. Zunächst - z.B. in 'Fase' oder 'Rosas danst Rosas' - drückte sich das Verhältnis zum Raum vor allem in den Bewegungsstrecken innerhalb strenger Muster aus. Das Entladen der Energie geschah unter anderem im Kampf, innerhalb der starren Muster zu bleiben. In der Entwicklung der Arbeit hat die vertikale Linie, die Architektur 'oben/ unten', an Bedeutung gewonnen. Obwohl sie bereits in 'Rosas danst Rosas' vorhanden war: erst das Liegen auf dem Boden, dann die Stühle als Zwischenstadium zwischen 'am Boden' und 'aufrecht'. Das Spannungsfeld mit der Anziehungskraft der Erde hat in der Entwicklung des Bewegungsvokabulars allmählich mehr Gewicht bekommen.
In der westlichen Welt liegt man normalerweise nicht auf dem Boden; man verbindet es immer mit schlafen, tot oder verletzt sein, sich gehen lassen, sich etwas hingeben, die Kontrolle verlieren; während aufrecht stehen, mit einem geraden Rücken, in Beziehung zu Wille und Bewußtsein steht. Fallen hat meistens etwas sehr Dramatisches. Es hat etwas mit der Wirklichkeit des Körpers zu tun, wie er in der westlichen Zivilisation erzogen wurde; es ist allerdings nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine natürliche Gegebenheit: wenn man sein Bewußtsein verliert, fällt man.
Ich mag Spiralformen sehr - wie in Muscheln oder in der DNS-Struktur; auch das Haar des Menschen liegt so 'gedreht' auf seinem Schädel. Wie die menschliche Architektur nach unten oder nach oben geht. Wie eine Gestalt vom Boden her aufsteigt, über auf-Händen-und-Füßen, bis aufrecht. Die Spirale ist am schönsten, weil sie so allumfassend ist, so großzügig und organisch. Ich fange an, Tanz mehr und mehr als - im körperlichsten und geistigsten Sinne - eine Brücke zwischen Himmel und Erde zu sehen. Die Glorie des Menschen als Verbindung zwischen dem Spirituellen und dem Materiellen, als Ort, an dem die beiden einander zuneigen.
Auch der Kreis kommt immer wieder zurück; in 'Erts' war er latent vorhanden; die ganze 'Große Fuge' ist auf dem Kreis aufgebaut, niemals auf eine 'einfache' Art, sondern immer kontrapunktisch bearbeitet. Nur in der letzten Vorstellung, 'Mozart/Concert Arias', die diesen Sommer in Avignon Premiere hatte, gibt es ihn nicht; da ist der Kreis hauptsächlich im Bühnenbild vorhanden, im Boden: der Kreis ist ein Oval geworden, oder besser, eine Ellipse. In einer Ellipse hat man zwei Zentren und noch einen dritten Punkt; wenn man die Linien zieht, erhält man ein Dreieck. Das ist viel schöner: zwei Zentren, die gleich wichtig sind.


Cour d'Honneur

Von Anfang an hatten wir das Gefühl, daß man in der Konstruktion des Raumes des Cour d'Honneur in Avignon der Monumentalität und der Kraft der Mauer im Palais des Papes nur etwas sehr Einfaches gegenüberstellen konnte. Wenig und schlicht. Einerseits hat der Fußboden mit Mozarts Musik einen bestimmten Reichtum gemein, andererseits verweist er mit dem Holz auf etwas Handwerkliches. Der Boden ist sowieso wichtig. Ich denke, daß wir in Zukunft nur noch Böden machen werden. Er ist doch gemeinsam mit der Stille dein erster Partner.


Herman Sorgeloos

Herman, der schon einige Jahre - nicht nur als Bühnenbildner - mitarbeitet, hat die wunderbare Gabe... man könnte es zu Unrecht eine bestimmte Art von Bescheidenheit nennen... das sehr delikate Gleichgewicht zwischen dem rein funktionalen Denken was der Tanz und die Vorstellung benötigen und der Scheu, der zögernden Art, mit der er Vorschläge macht. Es ist eine Dialogform: Vorschläge machen, gemeinsam nach etwas suchen, das sich selten von Anfang an völlig eingrenzen läßt; andererseits gibt es Dinge, bei denen er eigenwillig und eigensinnig ist; das hat mit seiner Liebe und Vorliebe für Materialien und Formen zu tun, die immer sehr eigen bleiben, aber nie aufdringlich werden. Es ist manchmal ein Prozeß, der so mühsam Gestalt annimmt. So viel Zurückhaltung, so viel Zögern - was bei der Arbeit innerhalb großer Strukturen, wie z.B. der Brüsseler Oper La Monnaie nicht immer evident funktioniert -; und gleichzeitig doch eine Abgegrenztheit und Entschlossenheit innerhalb bestimmter Normen; dies hier und das da; er schließt bestimmte Dinge aus.


Licht

Licht ist nie als Vorgabe von Anfang an in meinem Kopf vorhanden, aber wahrscheinlich wird man im Dunkeln anders schreiben als im Hellen. Schriftsteller, die früher bei Kerzenlicht arbeiteten: das führte doch zu einer anderen Art von Gedichten. Es gab zwar Ansätze, im Arbeitsprozeß schon früh über das Licht nachzudenken, aber beim Schreiben selber, bei der Bildung der Grammatik spielt es keine große Rolle. In den ersten Vorstellungen machte Remon Fromont das Licht, danach habe ich es eine ganze Zeit selbst getan. Seit 'Achterland' wird es vor allem von Jean-Luc Ducourt konzipiert. Für diese Vorstellung war die Grundidee: abgesteckte Licht-Rechtecke, die sich aus dem Ausleuchten der viereckigen Tische ergaben, auf denen getanzt wurde: die Licht-Rechtecke blieben, auch als die Objekte weggenommen waren. Man konnte 'lesen', woher die Formen stammten. Das Licht hatte eine Dramaturgie für sich, eine eigene Geometrie und Architektur.
Tanz zu beleuchten ist sehr schwierig: er bewegt sich wortwörtlich zu schnell; es gibt zu wenig Feststehendes. Ich denke, zwei Optionen sind möglich: entweder so schlicht, einfach und unaufällig wie möglich, allein im Dienste des Sehens, um die Bewegung als das zu lassen, was sie ist; oder aber eine Lichtarchitektur und Komposition, die sich selbst bewegt: eine Mobilität, die sich in die Dynamik der Bewegung einfügt und darauf antwortet; aber das ist natürlich sehr schwierig.


Probenraum/ Aufführungsraum

Das Verhältnis zwischen Proben- und Aufführungsraum ist immer zwiespältig. Ein Raum, in dem man drei, vier Monate lang acht bis zehn Stunden am Tag arbeitet, wird dein räumlicher Bezugspunkt; man muß probieren, dort irgendwie eine Übereinstimmung mit dem Bühnenbild und dem Aufführungsraum zu schaffen. Andererseits ist man auch froh, ihn wieder zu verlassen; der Raum ermüdet an einem bestimmten Moment. Beim Wechsel in den Aufführungsraum kommt, neben der normalen Überraschung, daß es dort anders aussieht, auch oft Unruhe auf, das Gefühl, sich in bestimmten Empfindungen geirrt zu haben. Aber der Wechsel gibt der Arbeit jedesmal neue Luft; man wird gezwungen, sich ihr von einer anderen Seite her zu nähern.
Deine Wahrnehmung eines Probenraumes ist sehr an das gebunden, was darin passiert ist, an bestimmte Handlungen bestimmter Menschen, an bestimmte Augenblicke deines Lebens. Der Raum im Kaaitheater z.B., in dem wir 'Bartòk/Aantekeningen' gemacht haben, und der objektiv gesehen - was Licht, Akustik und Größenverhältnisse angeht - sehr problematisch ist, um effizient darin zu arbeiten, gab mir trotzdem ein positives Gefühl.
Bei 'Stella' ist sicher die Dichte zwischen dem Raum der Probebühne und dem der Vorstellung spürbar. Das Bühnenbild von 'Stella' war eine Art Verschmelzung der Architektur, des Volumens und sogar der Farben des Probenraumes in der Werkhuizenstraat und des Raums in der Toneelschuur in Haarlem, wo das Stück Premiere hatte. Als wir damit auf Tournee gingen, haben wir die Rückseite des Bühnenbildes von 'Bartòk/Aantekeningen' als Wände benutzt. Von bestimmten Menschen wurde das als ein ausgesprochenes Statement aufgefaßt, obwohl es nicht so gemeint war. Das Mitnehmen von Dingen von einer Produktion zur anderen hat auch immer etwas mit der Zeitspanne und dem Lebensraum beim Machen einer Produktion zu tun. Man kann nicht alles in einer Produktion unterbringen. Bestimmte Dinge sind so dicht, so reich, man hat eine so starke Beziehung dazu, daß das nicht alles innerhalb einer Vorstellung formuliert werden kann. Dafür besteht auch keine Notwendigkeit.
In einem Probenraum ist ein Verhältnis zum Tageslicht unentbehrlich; sonst hat man kein Gefühl mehr für die Zeit, für das Wetter; ein Atelier muß durch offene Fenster mit einer Stadt verbunden sein. Wenn man mit Tänzern arbeitet, ist es wichtig, daß ihr Körperrhythmus mit dem Rhythmus des Tages mitgeht. Es gibt bestimmte körperliche Anstrengungen, die man morgens macht und andere erst später. Das Licht spielt bei der Erfahrung, wie die Zeit innerhalb eines Tages verläuft, eine große Rolle. Das war auch so eine sonderbare Erfahrung bei der letzten Vorstellung von Maatschappij Discordia, 'Restauratie': wie man dank der offenen Fenster fühlt, wie die Aufführung zusammen mit der Abenddämmerung vergeht.


Groß/klein

Für kleine Säle schreibt man anders als für große Säle. Was die Arbeit mit Text angeht, würde ich es im Moment eher vermeiden, sie für große Räume zu konzipieren. Es gibt diese ganze Argumentation, in der oft über Abstand und Volumen und über die Zurückhaltung, die das mit sich bringt, gesprochen wird; aber Tanz z.B. sehe ich per Definition nicht immer gerne in einem kleinen Raum; es gibt viele Dinge, die ich strukturell gesehen eigentlich viel lieber von einer bestimmten Entfernung aus betrachte.
In den meisten Theatern besteht auch das Problem, daß lediglich ein Viertel der Plätze optimal ist, die Hälfte annehmbar und der Rest schlecht. Die Menschen sehen die Vorstellung aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und erhalten dadurch eine völlig andere Wahrnehmung.
Wir haben in den letzten Jahren oft in sehr großen Theatern gearbeitet und auch in sehr kleinen: einerseits das Theatre de la Ville in Paris, die Stopera in Amsterdam oder das Maison de la Place in Montreal und andererseits The Kitchen in New York oder die Toneelschuur in Haarlem. Das verlangt von den Tänzern ein Stück Handwerk: ihre Projektion, ihr Erfühlen und Aufladen des Raumes muß in großen Sälen anders sein als in kleinen. So etwas kann man lernen. Manche Menschen haben auf eine intuitive, natürliche Weise eine räumliche Ausstrahlung, ein Bewußtsein vom totalen Raum um sie herum; das Problem ist oft, daß bei vielen Tänzern das Bild des Raumes nur durch das bestimmt wird, was sie innerhalb ihres Gesichtsfeldes fühlen und nicht durch das, was hinter ihnen liegt.
Wir haben 'Stella' im kleinen Raum von The Kitchen in New York getanzt, nachdem wir eine Reihe Vorstellungen in großen Sälen gegeben hatten: alle Signale waren auf einmal zu groß, zu dick, arrogant. Es wurde beinahe zu einer Art 'Überspielen', weil der Fokus nicht im richtigen Verhältnis zum Publikum, das nur ein paar Meter entfernt saß, übertragen wurde.


Auftreten und Abgehen

Auftreten und Abgehen: das verweist so auf früher; 'faire une belle entree, une belle sortie'; wie traditionell oder klischeehaft es auch klingen mag, Auftreten und Abgehen bleibt in der Art und Weise, wie man Zeit und Raum aufteilt, ein sehr wichtiger Moment. Ist dein Erscheinen im Raum auffallend oder gerade unauffällig? In der Sekunde des Auftritts und Abgangs kann man am genausten lesen, wie sich die Tänzer zum Geschehen auf der Bühne verhalten. Dann fühlt man die Klarheit oder die Undeutlichkeit in ihrem Körper und Kopf. Vielleicht noch eher beim Abgehen: wie hinterläßt man den Raum, den man ausgefüllt hat, schließt man ihn, oder läßt man ihn offen, wie verhält man sich in Bezug auf die Menschen, die in dem Raum zurückbleiben? Wie auch immer, es darf nicht unbewußt geschehen; man muß darüber nachdenken, nichts dem Zufall überlassen, stärker noch beim Abgehen als beim Auftreten. Es erfordert auch sehr viel 'Instandhaltungsarbeit': es ist das erste, das in einer Vorstellung schlampig wird oder verwässert.
Es gibt drei Vorstellungen, in denen jederman auf- und abtritt: 'Ottone', 'Mozart' und 'Achterland'. Bei allen anderen bleibt jeder auf der Bühne. Mit dem Abgehen schafft man eine ganz andere soziale Gegebenheit: es entsteht "une vie derriere les coulisses". Das führt zu einer anderen Art von Konzentration, einer anderen Art von Bühnenbezug, einer anderen Art von Zeit- und Raumerleben der Vorstellung, sowohl für die Tänzer als auch für das Publikum. Die Spannungsbögen werden viel individueller erlebt, als wenn sich alle ständig auf der Bühne befinden. Und natürlich gibt es auch noch den Rhythmus und die ganze Architektur des Auftretens und Abgehens. Die 'entrees' und 'sorties' in 'Achterland' waren schön; Auftritte und Abgänge wurden bis auf die Sekunde ausgetüftelt; das hat natürlich auch etwas mit der praktischen musikalischen Konstruktion zu tun, aber damit hängt eine ganze Dramaturgie zusammen, wie man einen Raum betritt und wie man ihn wieder verläßt.


Theatergebäude

Meine erste Produktion 'Asch' wurde für einen ganz bestimmten Ort gemacht; danach hat es mich nicht mehr wirklich interessiert, so etwas zu tun. Eigentlich interessiert mich eine traditionelle Bühnenanordnung am meisten: Fragen wie klein/nah oder groß/ Abstand, aber nicht so sehr die Nutzung bestehender, nicht-theatraler Räume.
In den letzten neun Jahren haben wir in sehr vielen verschiedenen Theatern gespielt, sowohl in sehr kleinen für 100200 Zuschauer als auch in sehr großen mit 1000-2000 Sitzplätzen. Es hängt natürlich von der Produktion ab: bestimmte Produktionen sind sehr schön in bestimmten Theatern. Es gibt wenige Theater, in denen die optimalen Bedingungen geschaffen wurden. Vor allen Dingen geht es zuerst um eine bestimmte Seele, einen Charakter und auch um die Größe, die Dichte, die Möglichkeiten, wie man das Publikum miteinbeziehen kann. Viele Theater haben Fehler in ihrer unmittelbaren, praktischen, technischen Konstruktion.
Zuerst fand ich die Stopera in Amsterdam als neue Konstruktion eines großen Saals 'gut, um darin zu spielen'. Die Erfahrung mit 'Ottone, Ottone' war dort wirklich sehr positiv gewesen. Danach, beim Zurückkommen, erlebten wir doch, daß bestimmte Bühnenbildkonstruktionen nur schwer in dem Saal untergebracht werden können. 'Achterland' z.B. war dort viel zurückhaltender. Eigentlich kenne ich kein einziges Theater, von dem ich sagen kann: hier sind alle optimalen Bedingungen vereinigt.


Das Theater und seine Bewohner

Das meiste der neuen Theaterarchitektur gibt einem so ein niedergeschlagenes Gefühl. Es ist immer eine Anhäufung des schlechten Geschmacks. Es gibt so wenig wirklich Überzeugendes, sowohl um darin zu spielen als auch um dort hinzugehen. Gebäude wie z.B. die Stadsschouwburg in Rotterdam sind architektonisch absolut nicht zu verteidigen. Es gibt Orte, an die ich gerne komme, wie die Toneelschuur in Haarlem. Das hat in erster Linie etwas mit den Menschen zu tun, die dort arbeiten und nicht mit der Architektur.
Es ist manchmal so seltsam: Theater sind Plätze, an denen allerlei Menschen vorbeikommen. Einen Tag vor der Vorstellung kommt man in so ein Gebäude und fühlt, daß hier kurz zuvor andere Menschen waren, aber sehr oft fühlt man nichts Greifbares mehr von den Erfahrungen der Menschen, die hier zuvor waren. Wenn man dann in ältere Theater kommt, wo es noch feste Ballettcompagnies gibt, wo man in der Garderobe die Spitzenschuhe hängen sieht, wo die Schminke liegt, die Postkarten am Spiegel... Das hat so etwas Muffiges, als ob es die Staubigkeit in den Köpfen der Menschen wiederspiegelt. Vor allem in provinziellen Opernhäusern, in denen Compagnies ansässig sind, die schon lange nicht mehr bestehen dürften.
In der Toneelschuur in Haarlem fühlt man z.B. die Anwesenheit von Maatschappij Discordia sehr stark; vielleicht hat das doch etwas mit dem Engagement von Jan Joris Lamers in diesem Haus zu tun; im Saal fühlt man, wie sich das Bewohnen eines Raumes auf sehr viele Details überträgt, auf Gegenstände, Farben, auf die Art und Weise wie eine Tür aufgeht. In den anderen Theatern ist die Ästhetik nicht richtig. Man bleibt dort zwei, drei Tage; aber es ist wirklich unmöglich, dort kontinuierlich zu arbeiten, etwas organisch auszubauen. DeSingel in Antwerpen z.B.: das ist doch völlig falsch konzipiert. Wenn man sich die Liste anguckt, sind praktisch keine guten Beispiele zu nennen.
Am liebsten würde ich noch stärker wählen können, wo wir spielen. Und die Orte haben immer etwas mit den Menschen zu tun, die dort arbeiten. Ins Theatre de la Ville in Paris zu gehen z.B., hat viel mit der Art und Weise zu tun, wie Gerard Violette seine Auswahl trifft; die Energie, die in so einem Haus zirkuliert, überträgt sich immer nach Außen. Paris, der Ort, an dem das Theater steht, die Geschichte eines solchen Raumes und was er in der Stadt bedeutet: das spielt dabei natürlich auch eine Rolle. Aber letztendlich ist es einfach ein Haus, in dem man fühlt, daß die Arbeit vorrangig ist.


Das Theater in der Stadt

Man erfährt immer eine Art Traurigkeit, wenn man in Theatern spielen muß, die an verkehrten Plätzen der Stadt angesiedelt wurden. Ein Theater muß doch etwas haben wie eine Kirche früher: ein Zentrum, die Kraft eines Ortes, an dem Menschen zusammenkommen, eine Brennpunkt-Funktion. Eine Kirche stellt man doch auch nicht an irgendeine Ecke. Der Ort, für den es geplant wird, muß auf dessen Bedeutung verweisen: dort kommen Menschen zusammen, nicht aus ökonomischen Gründen, sondern um gemeinsam eine spirituelle Erfahrung zu machen; es ist ein Ort, an dem Menschen sich selbst betrachten, an dem sie zwei Stunden lang oder mehr Dinge reflektieren, die sie in ihrem unmittelbaren täglichen Leben nicht formulieren können. Diese Art von Plätzen muß einen 'Rahmen' innerhalb der Stadt erhalten. Aber heutzutage stellt man auf solche Plätze lieber Einkaufszentren.
Wenn die Kraft von solch einem Ort nicht urbanistisch geplant ist, kann sie nur aus der Energie stammen, die von den Menschen, die in dem Theater arbeiten, ausgeht: es kommt auch vor, daß Räume, die sich an einem nicht offensichtlichen Ort der Stadt befinden, doch eine Ausstrahlung erlangen.

Ich werde so wütend, wenn ich an das C.V.A-Theater, wie es früher war, zurückdenke - ein Saal mit Charakter und Atmosphäre, an dieser Stelle, dem zentralen Platz von Anderlecht (Brüssel) - und an das, was sie jetzt daraus gemacht haben: das ist doch Beamtengeschmacklosigkeit, der Stil von Schwimmbadcafeterias. Ich fürchte, daß mit dem Umbau der Beursschouwburg in Brüssel dasselbe geschehen wird. Das ABC-Gebäude in Brüssel, in das das Kaaitheater nun einziehen wird, habe ich nur einmal gesehen. Schön ist, daß dieses Theater eine Geschichte an diesem Ort in Brüssel hat. Die Architektur muß sicher erhalten bleiben. Es liegt an einem Ort, an dem der 'Druck des Geldes' sehr groß ist; ein Viertel, das gewaltig gepuscht wird; man möchte daraus eine Art neuer Avenue Louise machen; der Öffnungsweg von Brüssel nach Flandern, mit dieser großen Basilika am Ende. Was dort jetzt entsteht, wurde wieder auf so eine plumpe belgische Art gebaut und umgebaut; keimfreie, geschmacklose Gebäude, die ihre Bedeutung aus dem Geld ableiten, das man in sie gesteckt hat, mit den immergleichen gelben und violetten Stiefmütterchen in ihren Blumenkästen, die - im März oder im September - immer gleich aussehen und schon lange keine Blumen mehr sind. Es wäre schön, wenn das ABC-Gebäude dazwischen stehenbleiben könnte, mit der Eigenart, die es von Innen und Außen ausstrahlt und mit der Eigenart künstlerischer Auswahl, für die Hugo de Greef steht. Etwas, das nicht abgeflacht wird, das stark ist und nicht mit dem Geldjahrmarkt der Leopoldlaan identifiziert werden kann, mit den kodifizierten Stadterneuerungsplänen, mit denselben Laternen und Blumenkästen, die man in allen europäischen Städten sieht, Plastikpflaster auf den Wunden der Kastanienbäume, die man dort vor so vielen Jahren ausgerissen hat...

Die Gespräche führte Marianne Van Kerkhoven in Brüssel am 12.,13., 25., 27. und 29. August 1992