Laßt die Coyoten in den Zuschauerraum!


Ein Gespräch mit Josef Szeiler (Heft 4)

Im traditionellen japanischen Theater heißt es, daß die Stille, die Regungslosigkeit, die größte Herausforderung für den Schauspieler ist. Auch beim Bogenschießen ist der Moment, bevor man den Pfeil abschießt, ein Moment der Stille, ein Moment der absoluten Wahrheit. Ist die Stille am Theater auch ein Moment der absoluten Wahrheit?

Sie ist vielleicht die Voraussetzung für alles andere, was es nicht gibt. Beim Bogenschießen ist es so, daß der ganze Ablauf eine Stille hat, eine Konzentration, die im Loslassen kulminiert. Es gibt verschiedene Formen von Stille. Die übliche Form am Theater ist die inszenierte Stille, das andere aber wäre das Entstehen von Stille. In Tokyo, wo ich im letzten Jahr die 'Hamletmaschine' inszeniert habe, gab es zwei Momente: das Heiner Müller-Symposion im Goethe Institut, wo mein Beitrag 40 Minuten Schweigen für alle war, bei geöffneten Türen, und eine öffentliche 1 2stündige Aufführung von 'Hamlet-Maschine', wo es Phasen von Stille gab, die nicht verordnet waren, sondern aus einer Arbeit entstanden, die eine lange Zeitdauer hatte. Aus dieser Art von Stille können sich z.B. um 3 Uhr in der Früh eigenwillige Improvisationen ergeben, die nicht verabredet sind, sondern aus Situationen kommen, und das ist entscheidend, denn es kann auch gar nichts geschehen. Das ist eine ganz andere Stille als die inszenierte Stille auf der Bühne. Ich finde es viel interessanter, einen Rahmen zu setzen, in dem Dinge möglich werden.
 

Die inszenierte Stille, d.h. die Stille, die (für die Zuschauer) unvorhergesehen in einem Theaterstück passiert, ist meist provokativ und unerträglich, weil sie davon ausgeht, daß irgend etwas passieren könnte, was aber nicht passiert. Als Zuschauer wartet man und erlebt die Stille nicht als solche.

Die Qualität ist doch, daß durch Stille, Ruhe oder 'silence' eine Gleichwertigkeit entsteht. Die Form des Theaters, die mit Bühne arbeitet, wird immer von Text und Aktion getragen, und in dem Moment, wo man den Text wegnimmt, entsteht Stille, zumindest in dieser Hinsicht, man kann dann immer noch Aktionen setzen, aber im Lauf der Zeit verschiebt sich etwas: das gesamte Umfeld wird interessanter. Durch die Stille ist man immer mit sich konfrontiert, mit der Bewegung, dem Blick, mit dem, was man hört, wie man hört. Wenn man den Einheitspegel wegnimmt - am Theater gibt es letztlich immer einen Einheitspegel -, passiert eine radikale Verschiebung der Wahrnehmung. Das Gehen, das Rascheln, das Husten, das Schneuzen - alles bekommt eine andere Qualität, eine andere Wertigkeit. In einem solchen Kontext könnte man ganz anders mit Texten operieren, unter kompositorischen Gesichtspunkten, nicht nach dramatischen Kriterien.
 

Ist also die Stille das purste Theater, das es gibt? Wenn Du vom Einheitspegel sprichst, in dem sich alle Momente des Theaters versammeln, dann hält die Stille, als Regungslosigkeit verstanden, alle diese Momente als reine Energie bereit

(Aziza Haas:) Stille deckt Strukturen auf, sie macht das Vorhandene sichtbar als das, wie es da ist. Am schönsten beschreibt das Cage in seiner Musik, indem er die Stille als das nimmt, was der vollste Moment an Äußerung, an Bewegung ist. In einem Gespräch mit Richard Schechner hat er diese Haltung zur Alltäglichkeit als einen ersten Moment für ein Theater der Zukunft beschrieben, wo Kunst übergeht in einen individuellen Freiraum, eben dadurch, daß etwas unvermittelt aufgedeckt wird, und nicht auf das, was schon besteht, eine Struktur aufgesetzt wird, damit der schöpferische Akt auch als solcher erkennbar ist. Das ist natürlich eine Frage der Definition des Künstlers, denn in der beschriebenen Art wird Kunst auch für den Zuschauer freigegeben. Er steht nicht im Nachvollzug, er kann seinen Moment selber finden. Das Leben sollte die Umwelt zur Kunst verwandeln. Insofern ist Stille Voraussetzung für ein neues Theater.
 

Die Stille als Anfangsmoment ist ja eigentlich nicht so unüblich. Du kommst in ein Theaterstück und findest vor, was vorzufinden ist

(Aziza Haas:) Dabei wird immer schon mit dem Rahmen gerechnet. Es wird aber selten mit der Situation des Publikums operiert, mit dem Schweigen des Publikums. Das ist reduziert auf den Pawlowschen Reflex.
 

Das Problem ist, daß das Publikum beteiligungswild ist und die Stille nützt, um sich selbst Aktion zu verschaffen. Das habe ich bei Einar Schleef erlebt, bei Jan Fabre. Es ist immer der Moment, wo die Zuschauer sehr unrubig werden.

Aber da sind auch die Möglichkeiten immer ungleich verteilt. Das Publikum hat sehr viel weniger Freiheit als die Schauspieler. Selbst wenn die Schauspieler auf der Bühne Zigaretten rauchen, ist das für einen Raucher im Zuschauerraum schon ein Moment, der nur unangenehm ist, den kann man zwar aushalten, aber solange man nicht die Möglichkeit hat, zum Aschenbecher raufzugehen und auch eine Zigarette zu rauchen, ist man als Zuschauer von vornherein eingekastelt. Die Theatermacher setzen die Grenzen, nicht die Zuschauer. Man könnte das ganz leicht aufbrechen, wenn man Mut hat, es wäre auch sehr viel interessanter. Das meine ich mit inszenierter Stille: es fängt an, dann wird geredet, alles hat seine Zeit, seine Bedeutung und seine Grenzen, es hat überhaupt nicht mehr die Komponente des Zufalls, der Improvisation. Nicht umsonst sind immer die Unfälle, die verunglückten Dinge, das Interessanteste am Theater: Sie stellen für kurze Zeit eine andere Art der Kommunikation her.
Es gibt doch diesen Satz von Heiner Müller: "Wenn die Discotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist." Wenn wir jetzt von 'silence' sprechen, von Stille, Ruhe, Vergessenheit, Schweigen, Verschwiegenheit, so sind das schon interessante Aspekte für eine Veränderung. Denn die Orte, wo es das gibt, werden in der Gesellschaft, in der ich lebe, immer weniger. Und das Theater schafft es nicht, solche Räume zu halten, es verordnet zentralperspektivisch auch die Stille. Das haben wir in Tokyo nicht gemacht. Jeder Ort, jeder Stuhl war auch für den Zuschauer. Mit dieser Situation muß man umgehen können. Es gab natürlich auch keine zentrale Musik. Wenn man mit dem Vorhandenen arbeitet, wird es keine Vereinheitlichungen geben, es ist faszinierender und vielfältiger als alles, was Fernsehen und Kino ohnehin bieten, und das perfekt. Es müssen andere Versuche mit Kommunikation gemacht werden, radikal andere.
 

Mir ist aufgefallen, daß es überall dort, wo solche Versuche gemacht werden, an der Dramaturgie der Zuschauer fehlschlägt. Das ist ein Schwachpunkt auch in den sogenannten Avantgardearbeiten..

Man muß sich der Situation stellen, daß an dem einen Tag soundso viele Leute kommen und am anderen viel mehr und ganz andere. Jeder Tag der 12 Aufführungen bei 'Hamletmaschine' in Tokyo war substantiell anders, mitbestimmt durch die Leute, die kamen. Ein Zusammenspiel von Kräften, die sich täglich herausgefordert haben. Dem ging eine 3monatige Zusammenarbeit aller Beteiligten voraus, sie mußten jederzeit in der Lage sein zu improvisieren, d.h. zu reagieren auf Nähe und Distanz. In dem Moment, wo man den Raum freigibt, muß man sich jedem Aspekt des Theaters neu stellen, auch auf die Gefahr hin, daß das Gefüge zerfallen kann, denn die sogenannten Zuschauer haben keine Erfahrung mit dem Theater - das stelle ich immer wieder fest man redet, aber es gibt keine Erfahrung. Und man braucht Zeit. Wenn ich in einen Raum von einer solchen Konsequenz reinkomme, dann brauche ich Zeit, mich zu orientieren. Manchmal habe ich während der Aufführung gesagt, daß die Leute sich bewegen können, wo und wie sie wollen, weil ich sehen wollte, ob das etwas verändert.
 

Die Griechen haben ihre Zuschauer auch hingesetzt.

Aber die konnten zumindest weggehen. Das ist die große Qualität. Das wirklich Angenehme an 'Death, Detroit & Destruction I 'von Wilson war, daß die Türen der Schaubühne offen blieben und Zettel dranhingen: Jeder kann zu jeder Zeit raus- und reingehen. So besteht die Möglichkeit, auch wiederzukommen, während inzwischen weitergespielt wurde. Wenn die Theaterfeste in der Antike von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gedauert haben, ist es doch völlig undenkbar, in dieser verkrampften Theaterhaltung von heute die Zeit durchzusitzen abgesehen davon, daß auch die Sonne und der Wind dazugehörten: silence. Wenn du das Meer hörst und die Sonne siehst! Schon das ist unvorstellbar für uns.
 

Das ist vom Theaterereignis abhängig. Es gibt solche, die den schwarzen Raum brauchen. Gab es damals an der Schaubühne keine große Unruhe?

Nein, außerdem war die Unruhe Teil der gesamten Unruhe. Es geht darum, dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, die der Regisseur hat, wenn er probiert. Und es gibt keinen Regisseur, der immer an einem Platz bleibt, jeder bewegt sich im ganzen Theater. Man muß die Theater aufmachen, das verändert die Arbeit radikal. All diese abgeschmackten Lächerlichkeiten sind dann nicht mehr möglich. Das Hindernis sind nicht die Zuschauer, sondern die Theaterleute, ihre Angst und ihre Mutlosigkeit.
 

Wenn wir sagen, die Stille, das bin ich, so ist Stille auch ein Moment der Einsamkeit Ist das nicht ein Widerspruch zu diesem kollektiven Erleben, das Theater doch sein soll? Oder ist die Einsamkeit auch eine Voraussetzung?

Einsamkeit ist eine Voraussetzung von Theater, alles andere ist Lüge. Deshalb ist das Theater auch so belanglos, alles ist zu einer mittleren Größe verkommen. An diesen Konzeptionen, die den Raum aufmachen, ist die Einsamkeit interessant. Wenn Du auf einem Stuhl sitzt, und neben Dir ist nichts im Umfeld von 10 Metern, bist Du zunächst alleine, und jede Annäherung an Dich bekommt eine andere Bedeutung, geschieht in einer anderen Form als in einer Sitzreihe.
 

Ich komme noch einmal auf das Bogenschießen zurück dort ist der Moment der Leere, der Stille auch ein tödlicher Moment Im Theater, das doch eine Lüge ist, läuft die Stille Gefahr, etwas Belangloses zu sein.

Das ist eine Frage von Zeit. Es ist immer interessant, wenn die Stille einen extremen Zeitrahmen hat: 24 Stunden, einen Tag / Nachtzyklus. Du änderst etwas an Dir, Deine Wahrnehmung verändert sich, verändert Dich. Sehen und Hören trennen sich voneinander und setzen sich in neuen, ungewohnten Strukturen zusammen. Irgendwann kommt man wieder auf sich und auf die Frage, worüber man reflektiert. Das braucht Zeit, Stille, Ruhe.
 

Die Stille ist auch ein rhythmisches Moment, sie hat eine Struktur der Zufälligkeit Wie ist das mit der Musik am Theater? Sie wird normalerweise dekorativ zum Gewebe der Theatermittel gesetzt, aber Musik kann auch ein Moment der Stille sein, der Sprachstille.

Mich interessiert die Konservenmusik am Theater nicht mehr. Alles andere, was musikalisch zu erarbeiten ist von den Leuten, die mitarbeiten, ob mit Instrumenten oder ohne Instrumente, steht für mich im Vordergrund. Sprachmelodien, Gänge, Geräusche von außen...
 

Dazu gibt es einen schönen Satz von Bresson: "Versichere Dich, alles ausgeschöppt zu haben, was Du durch Unbeweglichkeit und Stille ausdrücken kannst" Die Sprache ist ein musikalisches Element, darum funktioniert Theater auch in einer fremden Sprache, Theater ist eine universelle Sprache. Wie war das bei 'Hamletmaschine-Tokyomaterial'?

Wir haben deutsch und japanisch gearbeitet. Die Zitate blieben deutsch, sie wurden gar nicht übersetzt. Dabei ging es u.a. um den Klang einer fremden Sprache. Auch für mich war es gut, mit der japanischen Sprachmelodie umzugehen. Ich würde im Ausland immer zweisprachig arbeiten. Etwas muß fremd bleiben können. Ich denke, das ist der richtige Weg, weil das Theater zu sehr in der 'Aufklärung' steht, es will immer das Wesentliche vermitteln, darum muß alles eine Bedeutung haben.
Wenn man wirklich einen theatralen Gegenentwurf machen möchte, dann ist 'silence' ein zentrales Wort. Unsere Umwelt hat einen enormen Geräuschpegel und das Theater setzt ihn fort. Insofern ist die Minimalisierung ein wichtiger Gedanke, um das Theater einen unverwechselbaren Ort sein zu lassen. Es ist auch eine Mutfrage, sich den Dingen auszusetzen. Die Versuche, die Cage in der Musik gemacht hat, habe ich am Theater nie erlebt. Zeit ist eine wichtige Komponente.
Ich gehe davon aus, daß die Irritationen eines 2stündigen Theaterabends belanglos sind. Bei Aufführungen von 3 Tagen und 3 Nächten bekommst Du Schwierigkeiten mit Deinem Lebensrhythmus. In diesem Moment werden die Fragen interessant, die Du Dir zu stellen beginnst. Niemand füllt Dich an, bedient Dich, lenkt Dich ab von Deinem Alltag, Du arbeitest mit Dir, bist ein Teil dieses Geschehens. Im herkömmlichen Theater wirst Du als Zuschauer behandelt wie bei einem Begräbnis die Leiche. Du hast einen fixen Platz, der ist im Sarg, und um Dich herum passiert Kalkulierbares. An dieses Theater glaube ich nicht mehr. Es gehen auch immer weniger Leute ins Theater, und beschrieben wird es von denen, die davon leben. Von einem vitalen Interesse ist nichts spürbar.
Die Hälfte der Schauspieler ist in psychiatrischer Behandlung, d.h. am Theater findet nichts mehr statt. In dem Moment, wo die wirklichen Konflikte ausgeklammert sind, ist das Theater tot. Ein Freund von mir, der in Behandlung war, hat seinem Therapeuten beschrieben, daß er immer so ein Durstgefühl auf der Bühne hat. Daraufhin hat ihm der Therapeut die einzig richtige Antwort gegeben: "Was ist schon dabei, wenn Sie runtergehen und ein Glas Wasser trinken! Es stört ja niemanden!"
 

Es ist interessant, daß kaum jemand das Bedürfnis hat, diese Guckkastensituation aufzulösen.

Weil es eine enorme Anstrengung erfordert, das zu tun. Die Angst des Schauspielers ist das Verhältnis von Nähe und Distanz und die Möglichkeit, die Kontrolle darüber zu verlieren. Angst am Theater ist auf den Verlust der Kontrolle bezogen, und darin liegt die eine Chance. Der Raum muß für Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen zugänglich sein.
 

Manche Gruppen verwenden Tiere, die sind unbefangen und agieren ohne theatrale Codes. Ich weiß nicht, ob ein Schauspieler je außerhalb der Kontrolle sein kann. Er ist doch immer in einer theatralen Aktion, ob die jetzt 12 Stunden dauert oder in 1 Stunde gepreßt wird.

(Aziza Haas:) Aber so eine Begegnung, wie sie der Beuys 7 Tage und 7 Nächte hindurch mit einem Coyoten allein in einem Raum versucht hat, gibt es am Theater nicht. Er hat sich wirklich einer wilden Situation ausgesetzt, um einen Moment von purer Kommunikation zu erfahren.
(Josef Szeiler:) Laß den Tiger in den Zuschauerraum! Laß das Pferd in den Zuschauerraum! Es ist doch lächerlich, den Tiger durch den Käfig gehen zu lassen, oder die Hühner, die Ziegen, die Käfer und Spinnen. Laß sie doch raus, die Schlangen im Zuschauerraum und arbeite mit ihnen! Diese Geschichte von Beuys ist ganz außerordentlich, sie meint 'silence'. Das sind für mich elementare Momente von Theater, mit denen niemand operiert. Das Verhältnis vom Schauspieler zum Zuschauer sollte sein wie das von Beuys zum Coyoten.
 
Das Gespräch mit Josef Szeiler (und seiner Mitarbeiterin Aziza Haas) führte Brigitte Fürle in Wien am 16. März 1993